Wer ist Filareto Kavernido?

Dr. Heinrich Goldberg erzählt über seine Wandlung in Filareto Kavernido

Aus der Zeitschrift “La Socio” (Die Gesellschaft), von der Gruppe der Idista Laboristi seit 1918 in Arnhem (Niederlande) monatlich herausgegeben, entnehmen wir einen von Heinrich Goldberg im Dezember 1918 veröffentlichten Artikel. Er war einer der eifrigsten Mitarbeiter der Zeitung; möglicherweise war er auch an deren Gründung beteiligt, da er, bevor er mit dem Zusammenbruch des deutschen Reichs nach Berlin zurückkehrte, einige Zeit in Den Haag lebte.
Dieser Artikel ist deswegen interessant, weil er hier die Zeit seiner grossen persönlichen Krise beschreibt, die Ursache für einen grundlegenden Wandel in seiner Lebensart ist. Seine Eltern versuchten vergebens, ihm 1913 zu einem Ausweg aus der Niedergeschlagenheit zu verhelfen, indem sie mit ihm eine grosse Reise nach Amerika und durch mehrere europäische Länder unternahmen. Heinrich Goldberg erzählt in diesem Aufsatz wie er zum Namen Filareto Kavernido kam. Nachfolgend die deutsche Übersetzung.

Ein ums andere Mal stellt man mich und unseren Herausgeber diese Frage, so dass er nun, trotz seines eigentlich sanftmütigen Charakters, mich energisch dazu aufgefordert hat, endlich mal eine klare Antwort darauf zu geben. Ich aber möchte lieber auf die Frage antworten: “Was ist FILARETO KAVERNIDO?”, oder: “Was will FILARETO KAVERNIDO?”, denn meine Person ist eigentlich nur die materielle Erscheinung meiner Ideale, die nicht-adäquate Objektivation (Schopenhauer) der platonischen Idee des aristokratisch-ethisch-kommunistischen Anarchismus. Da ich befürchten muss, dass man mich noch viele Fragen dazu stellen wird, werde ich meinen Lebensweg darstellen. Dabei lasse ich jedoch zunächst mein erstes Leben aus und beginne mit der Zeit nach meinem Tod.

Denn ich war tot. Ich kam hin und wieder zur Besinnung, aber zeitweise war ich absolut tot. Meine Familie unternahm mit mir eine Reise auf einem Ozeandampfer, um mich mithilfe der Wunder jenseits des Atlantiks wieder zu beleben. Aber weder das lärmende Treiben New Yorks noch die imposanten Fabriken von Detroit noch die Erhabenheit der Niagara-Fälle konnten mich zurückbringen in die Welt der Lebenden. Ich besuchte Neapel, aber selbst das Mittelmeer mit seinen atemberaubenden Sonnenuntergängen konnte mich aus meiner Lethargie nicht reissen; auch nicht die wundervollen und aromatischen Düfte, die mich in transparenten Sphären zweierlei kristallklaren Blaus umgaben, die sich langsam verdunkelten und die Berge des Atlas und die bewaldeten Dünen der südlichen Küste Spaniens umhüllten und mit dem offenen Himmel zu verschmelzen schienen. Ich nahm all diese Schönheit in mich auf; nun konnte ich mich an den Bildern BÖCKLINS erfreuen, die ich bis dahin nicht verstanden hatte; ich war so bewegt, dass meine Augen sich mit Tränen füllten, aber selbst dann war ich immer noch tot. Ich tastete meinen Körper an beiden Seiten ab, aber ich spürte mich selbst nicht. Dann ging ich weiter nach Pompeji. Ich stand inmitten jener Ruinen, über welche ich in der Schule so viel gelernt und gelesen hatte. Ich besuchte die Museen Neapels und nach und nach spürte ich den Ruf des Lebens wieder. Dort konnte ich die Kultur erkennen, die sich auf all diese Gefühle gründete, die mich in jenem Moment übermannten; ich konnte die Spuren ganzer Generationen sehen, welche die selbe Aufregung gespürt hatten, die mich jetzt ergriff.

Ja, ich spürte das Leben wieder. Ich fühlte wieder Regungen in mir. Eine grosse Euphorie übermannte mich. Es war das erste Mal, dass der Schleier, der meinen Geist während meines Todes bedeckt hatte, sich lüftete. In Como verliess ich dann meine Familie und ging erst nach Lugano, in der Schweiz, und danach nach Paris, London… aber wonach suchte ich? Ich wusste es nicht. Aber jetzt weiss ich es: ich suchte das Leben, das von dem ästhetischen Sinn gelenkte geführte Leben, den die Reise in mir erweckt hatte. Ich erkannte jetzt diese Gefühle als dieselben, die in mir aufgelebt waren, seit die Liebe in mir erloschen war. Während ich umherirrte hörte ich auf einmal eine laute Stimme, hell und melodisch wie eine Glocke. Ich ging diesen merkwürdigen Tönen mit Neugierde nach und gelangte schliesslich zu einer grossen Kaverne. In ihrem Inneren sass auf einem Felsen ein alter Mann, mit einem langen, weiten, weissen Gewand bekleidet; seine Haare waren auch schneeweiss und bedeckten seinen Nacken und die Schultern; der weisse Bart reichte bis an seine Hüften. Doch er war kein Eremit. Seine listigen und naiven Augen glänzten mit dem Feuer eines Kindes. Er sah mich nicht; sein Blick war ins Unendliche gerichtet während er laut wie zu sich selbst sprach:

“Es gibt eine neue Art von Philosophie: Bei allem setzt sie das Mass ihrer Kritik an und opfert sich selbst im Namen der Wahrheit. Das Wahre und das Falsche sollen ans Licht kommen. Einige finde ich heraus, andere offenbaren sich selbst (denn es gehört zu ihrer Art, ein wenig enigmatisch zu bleiben). Ich wage es, sie mit einem nicht ungefährlichen Namen zu taufen: ich werde sie PROBISTEN nennen. Der Name selbst ist die letzte Prüfung; wenn man es mir gestattet, werde ich es versuchen.”

Nachdem er zu Ende gesprochen hatte näherte ich mich ihm und sprach: “Wer immer ihr seid, Euer Versuch spricht mich an. Wie möchtet Ihr mich taufen? Ich habe den Eindruck, dass Ihr der Täufer seid. Habt Ihr eigentlich keine Angst, Johannes’ Schicksal zu erleben?”

Der Greise lachte: ”Vor wem soll ich denn Angst haben? Siehst du etwa meine weissen Haare und meinen langen weissen Bart nicht?”

“Euer Haar und Euer Bart können täuschen”, antwortete ich ihm, “denn ich habe bereits viele Menschen mit Perücke und falschem Bart gesehen. Wie lautet doch gleich der Spruch?:

Letzendlich bist du was du bist
Auch wenn du eine Perücke mit tausend Locken,
Und deine Füsse auf hohen Absätzen trägst
Bleibst du dennoch was du bist,
Und du bist trozt allem Kind geblieben, deine Augen täuschen nicht.”

Der Greise strich sich über seine weissen Haare. “Wills Du mir etwa schmeicheln?” fragte er mich mit drohender Stimme und erhob den Stock, den er in seiner Hand trug, an dessen Ende ein goldener Ring, um den sich eine goldene Schlange wand.

Ich blieb bewegungslos an meinem Platz und antwortete ihm ruhig. “Mich könnt Ihr nicht einschüchtern. Ich habe nie gelernt, anderen zu schmeicheln, sondern nur die Wahrheit zu sagen, und Ihr seid der erste Mensche den ich treffe, der meine Wahrheit für eine Schmeichelei hält. Oft wollen die Menschen mich schlagen, weil ich die Wahrheit sage. Sie halten für Beleidigung, was Lob ist.”

“Dies zeigt, dass du dich zum Guten verändert hast”, sagte der Greis ruhiger geworden, und reichte mir die Hand. “Ich erkenne, dass Du kein Heuchler bist; auch hast du einen ehrlichen Blick. Verzeih mir also meinen Zorn und meine ablehnende Haltung.” Und während er meine Hand hielt und fest drückte, sah er hinter sich und rief laut: “Heran, heran, meine Tiere, meine Tiere, kommt schnell einen neuen lieben Gast zu empfangen.”

In jenem Augenblick tauchte in der Kaverne ein riesengrosser Adler auf; um seinen Hals schwang sich auch eine Schlange. Er setzte neben dem Greis und schmiegte sich an sein langes Gewand, während er mich neugierig betrachtete.

“Dieser junge Mann behauptet, dass mein langer Bart und meine weissen Haare nicht echt sind und meine Augen die Augen eines Kindes seien. Also ist Zarathustra nun zum Kind geworden. Sorge dafür, dass er in meiner Kaverne gut behandelt werde und dass es ihm gefalle; folglich wird er meine Dankbarkeit anerkennen müssen.”

“Das heisst also, Ihr seid Zarathustra?”, fragte ich ihn, “wie ist das möglich? Kürzlich sah ich ein Porträt von Euch, das dem spöttischen Antlitz des Mephisto ähnelte. Und warum bezeichnet Ihr mich als einen junten Mann? Seht Ihr nicht, dass in meinen schwarzen Haaren schon einige graue Strähnen schimmern?”

“Du hast mich mit deinen eigenen Waffen besiegt”, lachte Zarathustra, “Deine Haare täuschen, aber dein Blick ist ehrlich.”

Ich nahm erneut die Hand des alten Mannes, drückte sie fest und fragte ihn: “Könntet Ihr mir nicht zeigen, wie ich wieder zu einem Kind werden kann?”

Zarathustra legte seine rechte Hand auf meine Schulter: “Wie soll ich dich nennen?

“Ich liebe die Tugend, diese Tugend, welche die alten Griechen areté nannten und über welche Hesiod lehrt:
Die Götter setzen den Schweiss vor die Tugend
Ich suche Freunde, die wahre Freunde sein können, aber ich kann sie nicht finden. Ich finde nur einen Freund (filos, wie die Griehen sagen), und dieser Freund ist areté. Darum sollt ihr mich FILARETO nennen, den Freund der Tugend!”

Ich fühlte seine Hand immer schwerer auf meinem Haupt werden; da neigte der riesige Greis nieder und küsste mich auf die Stirn. Plötzlich rief er aus: “Aber deine Stirn ist ja eiskalt!”

“Das ist wahr. Wisst Ihr etwa nicht, dass ich tot gewesen bin?”

Dann nahm mich der alte Mann in seine Arme, um mich in seine Höhle zu tragen. Die Pflege, die mir Zarathustra und seine treuen Tiere angedeihen liessen, erweckten mich wieder zum Leben. So half er mir, wieder zum Kind zu werden. Nachdem ich, zum Kind geworden, diesen ersten Grad erreicht hatte, musste ich die Kaverne des Zarathustra verlassen, um mich in einer weniger günstigen Umgebung zu behaupten und abzuhärten. Da ich in der Kaverne des Zarathustra wieder zum Leben erweckt worden war betrachtete ich mich als seinen Sohn und übernahm folglich den Nachnamen KAVERNIDO.

Übersetzung aus dem IDO von Santiago Tovar

2018 – Aktualisiert 08-2021