Artur Streiter
geb. 17.01.1905 in Lichtenberg bei Berlin
gest. 21.10.1947 in Schönow
Artur Streiter und die Kaverno di Zaratustra
Eine Betrachtung von Santiago Tovar, Madrid
Artur Streiter war am Anfang unserer Suche nach Dr. Goldberg (2003) nur am Rande aufgetaucht. Wir verdanken den akribischen Recherchen unseres guten Freundes, des 2018 verstorbenen Heimatforschers Dr. Otfried Schröck, eine genauere Bestimmung der Teilnahme Streiters an der Kommune. Später bekamen wir Kontakt mit dem Artur-Streiter-Arbeitskreis, der uns entscheidende Erkenntnisse über sein Leben vermittelte.
Diese Chronik reiht sich in die Liste der Zeitgenossen der Kommune auf unserer Website ein. Hier berichten wir also nur über das, was Artur Streiter mit der Kaverno zu tun hat, insbesondere was er in seinem Tagebuch darüber notiert hat. Eine detailliertere Darstellung vom Leben und Wirken Artur Streiters findet man u.a. über die Kontaktstelle des Arbeitskreises und deren Veröffentlichungen. Die hier zitierten Dokumente befinden sich in den Archiven des IISG – Pierre Ramus Papers und im Fritz-Hüser-Institut Dortmund / Nachlass Artur Streiter. Wir haben leider noch nicht kompletten Einblick in Streiters Tagebuch bekommen.
Artur Streiter (geb. 1905) hatte gerade seine Malererlehre abgebrochen, als er 1921 zur Kaverno stieß, die wenig zuvor gegründet worden war. Mit seinen 16 Jahren war er wahrscheinlich einer der jüngsten Sympathisanten. Der Drang nach einem alternativen Leben und schwierige Familienverhältnisse brachten den offensichtlich umtriebigen Streiter in die Nähe der Gruppe. Vielleicht fühlte er sich anfänglich von der Persönlichkeit Goldbergs angezogen, ja fasziniert, oder er hatte besondere Gefühle für manche Mitglieder der Gruppe entwickelt; sicher ist, dass er sich der Gruppendisziplin nicht unterwerfen und sein Leben selbständig am Rande der Kommune führen wollte. Insofern wäre er in den Kategorien der Kaverno als “Laufgenosse”, nicht als Stammmitglied zu bezeichnen. In einem Brief an Pierre Ramus vom 18.6.1926 schrieb er, dass er “vor ungefähr 4 Jahren aus der ‘Kommune: La Kaverno di Zarathustra’ ausgeschieden” sei, also 1922. Uns ist nicht bekannt, ob er gelegentlich auch in der Mulackstrasse gewohnt hat. Bis 1924 arbeitete er gelegentlich als Kutscher und Lastenausträger in Straußberg, ebenso Laufjunge bei der Deutschen Tageszeitung. (Diese Bemerkungen verdanken wir auch Markus Leicher und Bernhard Heinzelmann, vom Artur-Streiter-Arbeitskreis). Aus seinen späteren Aussagen ist ersichtlich, dass ihm eine Reihe von Aspekten der Kommune nicht so recht gefielen: der autoritäre Charakter Goldbergs, der der Gruppe strenge Verhaltensnormen aufzwang; das gemeinsame, doch gleichzeitig unordentliche, ja chaotische Leben, das ihn, der eher den harmonischen Ideen Tolstois oder Landauers nahe war, nicht geheuer war; die freie Liebe, gegen die er sich später offen aussprach. So ging er ein und aus während der ersten Jahre der Kommune, als die Gruppe unter schwierigen Umständen zwischen der engen Stadtwohnung im Parterre der Mulackstrasse und dem Roten Luch außerhalb der Stadt hin und her pendelte. Was sicher zu sein scheint ist, dass ihn mit einigen der Mitglieder, allen voran Hannchen, wahrscheinlich auch Mally, eine besondere Beziehung verband. Er hielt über die Jahre stets den Kontakt zu Hannchen und war über das Schicksal der Kommune und deren Mitglieder informiert.
Zu Goldberg hatte er eine zunehmend eindeutig negative Meinung entwickelt, wie man aus dieser Stelle seines Tagebuchs ersieht. Streiter schreibt, wie Goldberg lange Jahre im Ausland lebte, auch in England interniert war, bevor er 1918 nach Berlin zurückkam:
“(…er, nicht gerade in der Gefangenschaft, aber vordem…). Er (G.) hatte sich aber schon in England genügend aufgeführt… Kein Anarchist von Proudhon, Bakunin bis zu Kropotkin und Malatesta ist dem Goldberg anarchistisch genug – und zwar aus dem Grunde, weil sie keine Kommune, keine Mulackstrasse errichteten. Für G. ist die Kommune die Basis, auf welcher eine ‘gesunde Anarchie’ aufgebaut werden kann. Das nennt sich anarchistisch nur das anzuerkennen, was man selbst für richtig hält – katholisch ist das, dogmatisch, danke schön. Einmal wäre R. zu Goldberg gegangen – aber nicht noch mal – es war ihm zu schmutzig! – Unordnung, meinte er, könne wohl sein, aber nicht Schmutz! Wasser, ein Stück Seife und ein Wischlappen kosten nicht viel, – das könne man schon – soviel muss eben sein – Und dann erzählte er mir die Geschichte von dem Spanier, der mal bei G. in Bln. war …’(Über den merkwürdigen Besuch vom führenden spanischen anarcho-syndikalistischen Vertreter Ibáñez, der wahrscheinlich dieser geheimnisvolle Besucher war, der auf dem Wege nach Moskau zum Gründungskongress der Revolutionären Gewerkschaftsinternationale war, siehe den neuen Beitrag (2022) in www.filareto.info: Zeitgenossen, Jesús Ibáñez).
Im Folgenden wollen wir Einträge aus seinem Tagebuch zitieren, die sein fortwährendes Interesse an der Kommune belegen. Seine noch erhaltenen Tagebücher beginnen im Februar 1925. Folgender Eintrag stammt aus Ostern 1926[1]Im August 1926 wurde in der Hütte eingebrochen und die Tagebücher verschwanden:
“Ostern 1926 ‘entdeckten’ wir (Erna und ich) das Rote Luch! (Ich kannte es ja schon früher, von der Zeit Goldbergs her… Wir wollten eine Osterfahrt machen… So fuhren wir am ‘Osterheiligabend’ vorm. mit dem Vorortzug nach Straußberg, um von da über Rehfelde zum ‘Luch’ zu gelangen.
Vorher ging ich noch zur ‘Goldberg-Kommune’ (Mulackstr. 21), um mich zu erkundigen, ob jemand im ‘Luch’ wäre und ob wir evtl. eine Nacht übernachten könnten. Ich traf gerade Adolf F. in der Kommune an, der mir sagte, dass niemand draußen sei, doch im ‘Kraal’ sei genügend Stroh, und dort könnten wir ruhig übernachten… Ja, siedeln wollten wir! … Ich hatte von Adolf F. gehört, dass die ‘Kommune’ das ‘Rote Luch’ aufgeben wollte, weil sie alle nach Südfrankreich übersiedeln wollten. So reifte in uns der Entschluss, das ‘Luch’ zu übernehmen. Allerdings wollten wir nichts mit der ‘Kommune’ gemeinsam haben. Gänzlich unabhängig wollten wir für uns sein. Es erschien uns als zu verlockend, Land, ein kleines Haus, ein paar liebe Menschen um uns herum zu haben…
Ich verhandelte mit Adolf F., zuerst wollte er 400.- M. für alles, was sich auf dem Lande befand, dem ‘Kraal’, ein verfallener Stall, ein halbfertiges Holzhaus (eine Baracke), in dem außer den Fensterscheiben auch noch ein ganzer Fensterrahmen fehlte, ein paar defekten Karren – das war wohl alles. Für 400.- M. zu teuer! Also für 200.- M. Da hat Erna eben von ihrem Gehalt genommen, was möglich war, das fehlende haben wir zusammen geborgt, und der ‘Kommune’ erst 100.-, dann noch einmal 100.- Mark hinzutragen. Zuerst, da hatten wir, – ich wenigstens, – noch Bedenken, ob der Berliner Hans v. Flemming mit der Übergabe des Landes einverstanden sei und ob er uns das Land verpachten wird. Das klärte sich aber dann und löste sich zur Zufriedenheit, als Hannchen G. heraus kam, um mit mir zu v. Flemming zu gehen und mit ihm über die Übergabe zu verhandeln.
1926 übernahm er für sich und seine Frau das Gelände der Kaverno im Roten Luch, wo er einige Jahre verbrachte. Soweit wir wissen, unterhielt er immer Kontakt zu den in Berlin verbliebenen und zurückgekehrten Mitgliedern der Kaverno, darunter Hannchen Gloger. Artur Streiter schrieb 1926 zwei Briefe an Pierre Ramus, Herausgeber von Erkenntnis und Befreiung in Wien. Sein Hauptanliegen war, bei ihm seine Beiträge zu veröffentlichen. Aus einem dieser Briefe erfahren wir von seiner Abkehr von der Gruppe um Dr. Goldberg:
“Meine Kameradin, im bürgerlichen Leben Frau genannt, und ich haben die Siedlung von der z.Zt. mit Recht berüchtigten und wegen ihres allzu großen ‘Anarchismus’ verrufenen ‘Gemeinschaft’ der ‘freien’ Menschen La Kaverno di Zarathustra, gegründet von dem flüchtigen Frauenarzt Dr. H. Goldberg im Roten Luch käuflich (!) erworben. Mit uns leben dort noch einige Kameraden in anarcho-kommunistischer Gemeinschaft, ‘deren Individuen im Besonderen frei und im Gemeinsamen freiwillig einig sind; wir wollen central Goldberg-Zarathustra entgegengesetzt tolstoische Liebe, Gesittung und Moralempfinden zu Bewusstsein, zur Tat werden lassen…’ (Brief Artur Streiters vom 15.5.1926 an Pierre Ramus in Wien. Ramus Archiv IISG).
In einem späteren Brief an Pierre Ramus schrieb er unter anderem:
“Die Siedlung, die wir von Goldberg erwarben, liegt 1 1/4 Stunden Fußweg von Berlin entfernt. Übrigens ist G. nicht in Deutschland und seine ‘Gemeinschaft’ ist im Begriff nach Nizza auszuwandern. Teuer genug haben wir die Siedlung auch gekauft, denn es sind z.T. verfallene Brocken und ein verwildertes Land, wie es jedem, der G. kennt, wohl selbstverständlich sein wird…” (Brief Artur Streiters vom 28.5.1926 an Pierre Ramus in Wien. Ramus Archiv IISG).
Genau zu dieser Zeit trug er in sein Tagebuch einen Vermerk ein (2.10.1926, Fritz Hüser-Institut Dortmund / Nachlass Artur Streiter Str-128, Tagebuch 7.VII.26 bis 19.X.26), der zeigt, wie nahe er Hannchen und anderen früheren Mitgliedern der Kaverno stand, und wie sehr ihm Goldberg inzwischen zuwider war:
“Hannchen (aus der Kommune L.K.d.Z.) ist mit all ihren Kindern schon wieder zurück aus Frankreich[2]Nach wenigen Monaten war Hannchen Gloger September 1926 aus Tourrettes sur Loup mit den 5 Kindern nach Berlin zurückgekehrt. Siehe Beiträge dazu in www.filareto.info/vita und Zeitgenossen – Heinrich Goldberg wächst sich mehr und mehr in seinen Brutalitäten aus – je älter er wird je autoritärer wird er – soviel erfuhr ich von Hannchen – aber sie hofft, dass ihn ein weiteres Alter erlösen wird. Ja, der böse Dämon der Sexualität hält ihn in seinen Krallen – er ist nur das armselige Opfer seiner Begierden und Gelüste. Er glaubt zu wollen und wird gewollt. Auch Mally war 14 Tage (gleich nachdem Hannchen und Mally drüben ankamen), von Goldberg weg – ihr jüngstes Kind ist außerhalb der Gemeinschaft im Sanatorium geboren – auf viel Zureden ging Mally wieder zurück – Hannchen ist 10 Wochen im Sanatorium gewesen – eine Woche ist sie schon hier, sie will zu Walter Mett. Das ist eine Gemeinschaft voll Gemeinheit – gewiß ist es besser keine Gemeinschaft als solche.”
Kurz davor hatten Artur und Hannchen die Überschreibung des Pachtvertrags des Roten Luchs abgeschlossen. Mally Michaelis war diejenige, die mit Goldberg und den Kindern 1929 die Reise in die Dominikanische Republik unternahm, wo sie bis zu ihrem Tode (1994) lebte. Und offensichtlich war Artur Streiter über die Geschehnisse in der Kommune in Frankreich auf dem laufenden, etwa die Arbeit im vom Dr. Monod geleiteten Sanatorium Les Courmettes, über die Streitigkeiten in der Gruppe und über den missglückten Fluchtversuch von Mally.[3]Siehe www.filareto.info/vita
[4]Dank einem Hinweis vom Artur-Streiter-Arbeitskreis wissen wir, dass es sich bei R. um den deutschen Anarcho-syndikalisten Rudolf Rocker handelt. (1873-1958) – … Fußnote vollständig anzeigen Er opponierte dezidiert gegen die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Gewerkschaften und das Projekt der Roten Gewerkschafts-Internationale. Ihm muss also das Verhalten des lebensfröhlichen Kollegen aus Spanien, der ausserdem entschieden für den Beitritt zur Profintern war, äusserst suspekt gewesen sein. Rocker war, zusammen mit Fritz Kater und die FAUD, der Berliner Gastgeber der spanischen Delegation der CNT, die 1921 auf dem Wege nach Moskau war. Die Kommentare von R. über Goldberg und Anarchismus in England deuten darauf hin, dass er ihn aus der Internierungszeit in England 1914-1918 kannte. Deswegen haben wir beim Zitat den etwas unverständlichen Eingangssatz stehenlassen, in dem von der “Gefangenschaft” die Rede ist.)
Santiago Tovar
Madrid September 2022
Fußnoten
↩1 | Im August 1926 wurde in der Hütte eingebrochen und die Tagebücher verschwanden |
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↩2 | Nach wenigen Monaten war Hannchen Gloger September 1926 aus Tourrettes sur Loup mit den 5 Kindern nach Berlin zurückgekehrt. Siehe Beiträge dazu in www.filareto.info/vita und Zeitgenossen |
↩3 | Siehe www.filareto.info/vita |
↩4 | Dank einem Hinweis vom Artur-Streiter-Arbeitskreis wissen wir, dass es sich bei R. um den deutschen Anarcho-syndikalisten Rudolf Rocker handelt. (1873-1958) – https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Rocker -. |