Kultur und Zivilisation
Heft 2 der Mitteilungsblätter aus Zarathustras Höhle
Einführung von Santiago Tovar
Interessanterweise nutzt Filareto Kavernido im Heft 2 der Mitteilungsblätter, „Kultur und Zivilisation“, die ersten Seiten zu etwas wirren Erörterungen, ob die barbarisch gegeneinander kämpfenden Völker des Ersten Weltkrieges als Kulturvölker gelten sollen oder nicht. Dies soll zur Erklärung des Begriffes „Kultur“ beitragen. Da die Deutschen etwas später den Gipfelpunkt ihrer Kultur erreicht hätten als ihre Nachbarnationen, hätten sie so eine optimale Gelegenheit, die sie auch nutzten, „direkt aus dem Feudalismus in den Zustand der neuen Kultur überzugehen“. Daher „entstammten auch die größten Kulturphilosophen der deutschen Rasse“ – hier übrigens finden wir eine Erwähnung des Wortes Rasse im Zusammenhang mit Kultur, die nur aus der Feder eines völlig assimilierten Juden stammen kann – und es sind „Goethe und Nietzsche, die uns die Grundlagen dieser neuen Kultur der Zukunft“ liefern, eine Kultur die uns „alle großen Musiker von Bach bis Beethoven, die auch nicht zufällig alle der deutschen Nation entstammten, in ihrer Musik ahnen lassen“.Es folgen einige ausführliche Erklärungen über den Menschen als Ergebnis von Wechselbeziehungen mit der Natur oder den Umständen, die die Wissenschaft auch ergründen soll. So versucht er zu einer materialistisch begründeten Definition des Menschen und des Daseins zu kommen: der Mensch ist, wie jedes „andere Naturprodukt“ – und hier zitiert er ausdrücklich den damals enorm populären Physiker und Biologen und auch von Darwin beeinflussten Ernst Haeckel (1834-1919) – die „Erscheinungsform einer bestimmten Anzahl von Substanzmolekülen“. Unter Zitierung der damals neuen wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse über Energetik, über die Elektronen- und Ionentheorie usw. gelangt er zu einer Definition des Menschen als Teil der Natur und Ausdruck „der Wechselwirkung der beiden Erscheinungsformen der Allkraft“…:“die lebendige, aktuell wirksame – auch virtuelle oder kinetische genannt – und die aufgespeicherte – potentielle oder latente – Energie, die als das Resultat geleisteter Arbeit für eine neue Arbeitsleistung zur Verfügung steht“. An diese als wissenschaftliche Grundlage angegebene Definition knüpft er seine Lieblingstheorie über den „Fortpflanzungstrieb“ als Erscheinungsform der „lebendigen Kraft“ und den „Selbsterhaltungstrieb“ als Erscheinungsform der „potentiellen Energie“ an. Diese beiden Triebe „machen das Leben überhaupt aus“. Sie sind „als das innerste Wesen unseres Lebens“ anzusehen, deswegen kann der „Zweck unseres Daseins“ nur erreicht werden, indem „wir uns diesen beiden Instinkten anvertrauen und uns von ihnen unbedingt führen lassen“. Es gilt, die beiden Triebe zu stärken und höher zu entwickeln. Dabei soll man keine Angst haben. Der „Selbsterhaltungstrieb zwingt den Menschen dazu, die Natur und ihre Kräfte zu studieren, um die Gefahren vermeiden zu können, von denen er in jedem Augenblick bedroht wird“. Es handelt sich um die Heilkunst, die Biologie, die Wissenschaft insgesamt und das Produkt davon, die Technik. Und dies, was „den Ruhm und den Stolz unserer Zeit“ ausmacht, ist nicht ein individuelles, sondern ein von den sozialisierten Menschen produziertes Gut. Man braucht kollektive Arbeit, Maschinen statt Handarbeit, also eine Arbeitsteilung. In der heutigen Gesellschaft würde aber die Organisationsform dieses Zusammenlebens „aus dem Egoismus (entstehen), da doch der Selbsterhaltungstrieb der Ausdruck des Egoismus ist“. Danach holt er aus zu einer ethischen Kritik der heutigen Gesellschaft, in welcher das Gesetz der Stärkeren regiert, und er bemerkt, wie „z.B. die Großfinanziers aller Länder“ sich um keinerlei Sittengesetze kümmern. Allerdings seien diejenigen, die den „Altruismus“ oder die „Nächstenliebe“ predigen, nicht unbedingt besser, denn das sei nur der Ausdruck ihrer eigenen Schwäche, die sie durch Solidarität und Rücksicht auf die Nachbarn überwinden möchten. Das Ergebnis des Altruismus, also auf die Wünsche der anderen Rücksicht zu nehmen, statt „den Bedürfnissen des eigenen Körpers gemäß“ zu handeln, kommt einer „Unterdrückung der Rechte des Menschen“ gleich. Denn unsere eigenen Bedürfnisse müßen allein „die Grundlage unserer Handlung sein“. Der vermeintliche Widerspruch zwischen dem Ausleben des Selbsterhaltungstriebes, der zum Untergang der Gesellschaft führen soll, und der unbedingt notwendigen Befolgung dieses Instinkts löst sich durch das Pendant des Fortpflanzungstriebes; dieser Instinkt erweist sich als stärker als der andere: denn „mit und durch die Liebe wachsen wir, die Liebe läßt uns die Vorahnung des hohen Glückes empfinden, daß in dem Bewusstsein liegt, ein höheres Ziel im Leben erreichen zu können als die Befriedigung der aus dem Selbsterhaltungstrieb geborenen Wünsche für das ach! so erbärmliche Alltagsbehagen.“ Denn die Ausdrucksform des Fortpflanzungstriebes ist der Liebesakt, und wir beobachten, wie „die Insekten bei der Zeugung sterben“ und daß die meisten Tiere „jede Vorsicht verlieren wenn sie von der Brunst… beherrscht werden“. Beim Menschen sieht man, wie er „von der Liebe zu den größten Handlungen, deren er fähig ist, emporgetrieben“ wird.
Und weil wir im allgemeinen nicht durch Worte erklären können, „was uns die Liebe empfinden läßt“ hat die Menschheit ein anderes „Ausdrucksmittel für diese Empfindungen (gefunden): Die Kunst. Mit der Melodie eines Musikwerkes, durch die in seinem Drama oder seiner Erzählung geschilderten Charakteren, durch den Ausdruck des Gesichtes seiner Statue oder Malerei, erzählt uns der Künstler, was die Liebe ihn hat fühlen lassen. Beim Hören, Lesen und Sehen solcher Kunstwerke werden diese großen Empfindungen, die wir ursprünglich durch die Liebe und den sexuellen Orgiasmus kennen gelernt hatten, wieder wach gerufen.“ Weiter heisst es, auf den Gegensatz zwischen Kunst / Liebe / Fortpflanzungstrieb und Technik /Wissenschaft /Selbsterhaltungstrieb beharrend, und es lohnt sich zu zitieren angesichts der Bedeutung der Liebe, ja der Propaganda, die Filareto am Beispiel seiner Kommune in Sachen Freie Liebe und Sexualität ausgeübt hat: „und jetzt sehen wir, daß die Kunst die Menschen fester vereinigt als die Technik…. weil die durch die Kunstwerke ausgelösten Empfindungen unvergleichlich höher sind als die, welche die Technik hervorzurufen imstande ist“. Deswegen können nur Menschen ein „eigenes Urteil über ein Kunstwerk“ besitzen, welche diese Empfindungen der Liebe kennen. Und „natürlich müssen die Menschen ästhetisch genügend vorgebildet sein, um das (Kunstwerk) verstehen zu können“. Nun ist die Kunst selbstverständlich über dem Niveau „der rein tierischen Geschlechtsbetätigung… denn die Auslösung dieser Empfindungen durch die Kunst hat nicht jene Ermattungszustände zur Folge, die uns das Verweilen auf den Gipfeln der Erregung verbieten; vielmehr hält uns die Kunst, solange wir ihre Werte geniessen, auf dieser Höhe, wodurch sie uns gerade stärker macht und höheren und immer höheren Entwicklungszuständen unserer Gesamtpersönlichkeit entgegenführt.“
So findet F.K. als Quelle der kleinsten (Familie oder Kommune?) oder der größten Gesellschaft (Gesamtgesellschaft) den Egoismus, auf dessen individuelles Wirken ihre Funktionsweise basiert; es handelt sich aber um einen wahren „Egoismus, welcher wirklich das höchste Entzücken und Genießen der Persönlichkeit fordert“. Der Egoismus, wiederholt er, arbeitet durch das Ausleben der beiden Instinkte. Also müssen wir sie zu „einem möglichst hohen Zustande … entwickeln“, um zum Zustand der „wahren Kultur“ zu gelangen. Ein Kennzeichen der heutigen Gesellschaft ist die überbetonung der technischen, zivilisatorischen Aspekte zu Lasten des Fortpflanzungstriebes, der „unterdrückt“ ist.
Schließlich faßt er sein Programm des Kulturkampfes im letzten Absatz zusammen, der eine Art Aufruf ist und den wir voll zitieren müssen, wobei anzumerken ist, daß er hier das Wort Sozialismus überhaupt zum ersten Mal erwähnt:
„Der wahre Sozialismus, welcher fordert, daß jeder Mensch seine Kräfte und Fähigkeiten, die ihm die Natur gegeben hat, ausnutze, um Werte zu schaffen, das er nehme, was er für sein Leben braucht, und daß er von seinem eigenen, genügend durch- und ausgebildeten Gewissen regiert wird, ist ein solcher wahrer Kulturzustand. Deshalb sage ich: Wir haben gesehen, daß die Hingabe an unsere natürlichen Instinkte uns zu immer höheren Zuständen des Lebens führt. Wir haben einen Gesellschaftszustand erkannt, welcher eine derartige Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, d. h. dieser natürlichen Instinkte, sicher stellt. Also, legen wir den Grund zu dieser Gesellschaft, bauen wir sie auf, und wir bauen die neue Kultur auf; sie ist in uns, in jedem Individuum – zeigen wir sie.“
Sein System versucht, in sich geschlossen zu sein: der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft ist der Kern der Entwicklung beider. Die wahre Gesellschaft der Zukunft ist in jedem Individuum, es muß dies nur in Einklang mit dem Ausleben der Instinkte bringen, wobei die eigenen Bedürfnisse die Triebkraft zu dieser Weiterentwicklung darstellen. Man muß wollen, man muß dabei sein, und man wird dann an der Kultur partizipieren, an der Umwandlung der Gesellschaft und außerdem das nehmen können, was man „für sein Leben braucht“, also auch die wirtschaftliche Not lösen, ein attraktives Programm, insbesondere in den Krisenjahren 1918-1923.
Aber nicht genug damit, nun erklärt F.K. in seinem dritten und wohl letzten Heft den Zusammenhang zwischen Kultur- und Klassenkampf.
Santiago Tovar – 2004