Die Reise nach Tourrettes-sur-Loup
Ein Reisebericht von Maja Tovar
Es war wie im Detektivroman: Im August 2004 sind Santiago und ich auf der Suche nach der Vergangenheit, mit einer Landkarte der Provence und nur wenigen Daten als einzigem Werkzeug. Vertuemo und Lotte und auch die dominikanischen Geschwister hatten uns von ihrem Leben in Tourrettes erzählt, aber natürlich darf man nicht vergessen, dass dieses Leben fast 80 Jahre zurückliegt und sie alle sehr kleine Kinder waren, mit Ausnahme von Lotte, die damals 13 Jahre alt war und deren Erinnerungen deswegen auch am konkretesten und ausführlichsten sind.
Beim Ortsnamen Tourrettes fing es schon an: es gibt nämlich mindestens drei gleichnamige Ortschaften in Südfrankreich, und vor Jahren hatte Helmas Sohn Till auf einer Reise ein Tourrettes besucht, ohne Gewissheit zu haben, ob es das richtige war. Jedenfalls fand er keine konkreten Hinweise. Gewissheit verschaffte uns vor wenigen Wochen die Geburtsurkunde von Victor Michaelis, deren Kopie uns sein Sohn Frederich schickte. Dort ist als Geburtsort “Courmettes, Gemeinde Tourrettes-sur-Loup, Bezirk Grasse” angegeben. Bei Esperoza in Santo Domingo hatten wir eine Sammlung von Postkarten aus dem Nachlass Mallys gesehen, auf denen die Schluchten des Flusses Loup abgebildet waren. Also Tourrettes-sur-Loup zwischen Grasse, der Parfümstadt, und Vence an einer malerischen Bergstrasse gelegen. Im Reiseführer steht, dass Tourrettes zu den “villages perchés” gehört – so werden diese Orte genannt, die “wie ein Vogel auf dem Ast sitzen”, in den Bergen über der Côte d’Azur, früher schwer zugänglich für die Feinde, heute den schwindelfreien Touristen vorbehalten. Die Strasse führt nach etwa 15 km hinab ans Meer und wenn man dann nochmal 15 km die Küste in östlicher Richtung entlangfährt, gelangt man nach Nizza, richtet man sich nach Westen, kommt man nach etwa 20 oder 25 km nach Cannes. Eine weltberühmte Gegend voller Glamour, doch das ist eine andere Geschichte….
Wir näherten uns Tourrettes am frühen Nachmittag – unterwegs hatten wir uns auf einem Rastplatz mit Käse, Tomaten und Baguette gestärkt, leider ohne den passenden Wein dazu, da hatte unser Autofahrergewissen gesiegt! -, als Santiago plötzlich das Schild sah: Les Courmettes! Das musste es sein – Kehrtwendung und hinauf den schmalen Weg, der uns zu dem Sanatorium führen sollte, in dem Victor geboren worden war und die Kommunemitglieder gearbeitet hatten, wie wir von Lotte wussten. Wir fuhren an grossen Anliegen mit Villen vorbei, doch dann endete die besiedelte Zone, der Weg wurde sehr schmal und ein Sanatorium oder ein Hinweis darauf waren nicht zu entdecken. Voller Enttäuschung kehrten wir um – übrigens kein leichtes Unternehmen auf dem steil bergauf führenden Weg – und trösteten uns mit der Erklärung, dass nach so vielen Jahren natürlich vieles verändert sein musste.
Nach 2 oder 3 km erreichten wir Tourrettes, wo wir uns sofort in das Touristen-Informationsbüro begaben. Das junge Mädchen dort suchte uns verschiedene Karten und Pläne zusammen und empfahl uns, Monsieur Binder im Rathaus aufzusuchen, der sich um stadthistorische Angelegenheiten kümmere. Aber wie das dann so ist, wenn man´s eilig hat: die städtischen Büros waren ausgerechnet an dem Nachmittag, den wir zur Verfügung hatten, für den Publikumsverkehr geschlossen! Wir trauten uns, klingelten trotzdem an der verschlossenen Tür und hatten Glück: Monsieur Binder war zwar nicht da, aber eine zunächst etwas unwillige Angestellte,die uns eigentlich schnell abwimmeln wollte, doch zunehmend interessierter wurde, als sie hörte, worum es ging, bat uns in das Büro und zog unter ihrem Schreibtisch ein verschlissenes Buch hervor, in dem sie nach kurzem Blättern den Eintrag der Geburt von Victor Michaelis im Jahre 1926 fand. Wir kannten seine Geburtsurkunde, von der uns sein Sohn eine Kopie geschickt hatte, als Auszug aus dem Register des Standesamtes, aber hier sahen wir nun den Originaleintrag. Santiago kam auf die Idee nachzusehen, ob in den drei Jahren, welche die Kommune in Tourrettes verbracht hatte, noch mehr Geburten ausländischer Kinder verzeichnet waren, und die Suche gestaltete sich überraschend einfach: pro Jahr waren nicht mehr als 6 – 8 Geburten in der Gemeinde registriert worden, und so konnten wir die Seiten des Registers bis 1929 schnell durchblättern. Tatsächlich tauchte ein weiterer Name auf: das Mädchen Amozino (ein Esperanto-Name), 1927 geboren, hatte deutsche Eltern, nämlich Alois Schenk und Anna Beyer. Diese zweite Geburtsurkunde bot wichtige neue Informationen: das Kind Amozino war nicht im Sanatorium von Courmettes geboren , sondern in Villar des Courmettes, und ausser dem Namen des unterzeichnenden Sanatoriums-Direktors Dr. Gérard Monod war auch sein Alter – 47 Jahre – vermerkt. Monod war also genauso alt wie Filareto….Unsere detektivische Kombinationsgabe war in höchstem Masse gefordert: wir wussten von Lotte und von Esperoza, dass es in Tourrettes einen Arzt gegeben hatte, bei dem die Kommunemitglieder arbeiteten. Sollte Dr. Monod etwa ein Studienfreund Goldbergs gewesen sein, der ihn einlud, nach Tourrettes zu kommen, als er von der schlechten Situation der Kommune in Berlin erfuhr? Und der ihnen Arbeit im Sanatorium und eine Unterkunft zur Verfügung stellte?
Leider konnte uns die nette Frau im Büro der Stadtverwaltung auch nicht weiterhelfen. Nun standen wir also wieder auf der Strasse, spazierten durch den ausgesprochen malerischen Ort – kein Wunder, dass er voller Touristen war! – und überlegten, wie es weitergehen sollte. Vor einem Haus im Schatten sass eine alte Dame, die wir schon auf dem Hinweg zum Bürgermeisteramt gesehen hatten, vielleicht 80 oder mehr Jahre alt, die das Kommen und Gehen auf der Gasse interessiert verfolgte. Sie sah freundlich aus, was uns animierte, uns noch einmal zu trauen: wir sprachen sie an und fragten, ob sie sich an ein Sanatorium in Courmettes erinnern könne und an Ausländer, die dort gelebt haben sollten. Sie konnte sich erinnern – zwar nicht an die Kommune, aber doch an das Sanatorium, das es immer noch gebe und zwar als Begegnungsstätte hoch oben auf dem Berg. Von Dr. Monod wusste sie auch einiges zu erzählen, die Familie sei bekannt im Ort, es solle da jetzt aber nur noch eine Urenkelin im Château du Caire geben. Vielleicht wüssten die aus dem Buchladen gleich zwei Häuser weiter etwas mehr…
Das Buchhändlerehepaar war gesprächig und gehörte sogar dem Verein der Freunde Tourrettes an. Von Filareto und seiner deutschen Gruppe hatten sie noch nie gehört, kannten jedoch die Geschichte des Sanatoriums und wussten, dass Monod eine Villa weit oben auf dem Berg besessen habe. Dort gebe es jetzt einen Verein, irgendetwas Wohltätiges, merkwürdige Leute. Der Buchhändler führte uns vor die Tür auf den Marktplatz und zeigte auf den von dort aus zu sehenden Berghang hinter dem Ort: dort oben seien Höhlen, in denen viele Jahre lang bis vor kurzem Leute gewohnt hätten, so etwas wie Hippys. Bei der Erwähnung der Höhlen wurden wir natürlich hellhörig – sollte Filareto dort gar seine “Caverno” gefunden haben? Wir kauften ein Büchlein mit der Geschichte von Tourrettes und schöne Postkarten und bevor wir gingen, rieten uns die netten Buchhändler noch, unbedingt mit Madame Graziani nebenan zu sprechen – sie wisse dank ihres hohen Alters sehr viel über die Geschichte des Ortes. Das war doch die alte Dame, die wir vorher schon befragt hatten, unser Auge hatte uns also nicht getäuscht!
Der Weg zum Sanatorium war genau der, den wir schon ausprobiert hatten. Wir liessen uns diesmal also nicht abschrecken, auch als die Villen hinter uns zurückblieben und fuhren die schmale, gewundene Strasse immer weiter hinauf – vielleicht 4 oder 5 km. Der Weg war so schmal, dass es nicht angenehm gewesen wäre, einem anderen Auto zu begegnen, doch wir hatten Glück. Er endete an einer Esplanade mit Blick auf ein grosses, graues Steingebäude, das vorher nicht zu sehen gewesen war. Eine Barriere und ein Hinweisschild wiesen darauf hin, dass hier der befahrbare Weg zu Ende war und man sich in einem Naturschutzgebiet befand. Zu unserer Überraschung parkten mindestens 30 oder mehr Autos auf dem grossen Platz, und vor dem Haus warteten Leute mit Gepäck in einer Schlange vor dem Tisch, an dem man sich für die hier stattfindende Veranstaltung eintragen konnte. Niemand hatte Zeit für uns, wir suchten uns aus einer Auslage selbst ein paar Informationsschriften zusammen und sahen uns etwas um.
Das dreistöckige Gebäude hatte grosse Arkaden, überdachte Bogengänge rings um das Haus. Ein Garten voller Sonnenblumen, daneben so etwas wie Wirtschaftsgebäude. Hohe Bäume und Wiesen rundherum. Im Hintergrund höhere Berge – auf der Karte sahen wir, dass wir uns in 830 m Höhe befanden und der Pic des Courmettes sogar auf 1250 m ansteigt. Aus den Broschüren erfuhren wir, dass sich an diesem Ort schon seit dem 15. Jahrhundert eine Domäne befunden hatte, die durch viele Hände ging, bevor sie 1918 von der protestantischen Kirche mit dem Geld amerikanischer Förderer erworben wurde, um dort eine soziale Einrichtung zu schaffen. 1920 wurde ein “Sanatorium für Heliotherapie” eröffnet, in dem Lungenkranke mit Sonnenbestrahlung behandelt wurden. Gründungsdirektor war der bereits erwähnte Dr. Monod, der mit dieser Therapie und homöopathischen Methoden grosse Heilungserfolge erzielte. 1929 verschüttete ein Erdrutsch den sowieso schon schwierigen Weg, der zum Hospital führte und machte es unmöglich, die Kranken weiterhin nach dort oben zu transportieren. Man verwandelte das Krankenhaus in einen Ort, an dem Kinder mit angegriffener Gesundheit in der gesunden Bergluft hochgepäppelt wurden. Immerhin konnten diese Kinder, anders als die schwer Tuberkulosekranken, auf Eseln oder Maultieren auf den steinigen Wegen zum Haus hinaufreiten.
Dr. Monod verliess Les Courmettes 1934 und siedelte nach Cannes über, wo er die ersten antifaschistischen Gruppen gründete. Seine Arbeit muss wohl wichtig und verdienstvoll gewesen sein, eine Strasse in Cannes trägt seinen Namen. Alle diese Informationen überflogen wir nur schnell – wir wollten doch den Ort entdecken, an dem Kommune gelebt hatte! Also marschierten wir los, links, rechts und rundherum suchend, ob wir Reste einer Behausung sahen, vielleicht mit einer ebenen Fläche davor, auf der möglichst ein Olivenbaum stehen sollte, an den Vertuemo sich noch erinnern kann. Aber weit und breit waren nur andere Bäume zu sehen – Pinien, Korkeichen, Eiben, darunter kleineres Gebüsch und wohlriechende Kräuterpflanzen wie Thymian und Oregano. Auch Gras gab es, man konnte sich durchaus vorstellen, dass hier Kühe, Schafe oder Ziegen weideten.
Plötzlich fiel der Groschen: “Villars” stand da auf der Landkarte – das war doch der Name, der auf der Geburtsurkunde von Amozino Schenk als Geburtsort vermerkt war und den wir von einem Foto Mallys kannten, das wir bei einer der dominikanischen Cousinen gesehen hatten. Ausserdem lag dieses Villars auf etwa gleicher Höhe mit dem Sanatorium, genauso wie Lotte es erzählt, die sich erinnert, dass sie dorthin zur Arbeit gingen.
Der Fussweg führte uns nach etwa einer halben Stunde zu einem grossen, imposant aussehenden Gebäude – Les Villars. Natürlich “Privatbesitz, Betreten verboten”, wie das junge Mädchen gleich dreimal erwähnte, das aus dem Haus kam, um den kläffenden Hund zurückzurufen, der mich hatte schreckensstarr werden lassen. Sie wusste nicht viel über die Geschichte des Ortes, vielleicht hatte sie auch keine Lust, es uns zu erzählen und begnügte sich mit der kurzen Auskunft, das Haus sei vor 30 Jahren von ihrem Onkel erbaut worden. Dies könnte also vielleicht der Ort sein, an dem vor fast 80 Jahren eine viel bescheidenere Behausung stand, die zwar aus Stein war, wie sich Lotte und Vertuemo erinnern, doch eher einem Stall oder Schuppen ähnelte. Einen Olivenbaum konnten wir nicht entdecken, aber das hat nichts zu bedeuten. Nicht weit entfernt von Les Villars gab es laut Plan eine Schäferhütte, die heute in Ruinen liegt. Wir haben sie nicht gesehen, aber auch dort könnten im Frühjahr die Neuankömmlinge ihre erste Unterkunft gefunden haben und dann zum Winter hin in das besser geschützte Gebäude von Les Villars gezogen sein. Es gibt noch reichlich mehr zu erforschen, um weitere Besuche in der wunderschönen Gegend zu rechtfertigen!
Es war Abend geworden, wir fuhren wieder nach Tourrettes, um ein Hotel zu suchen und zu essen. Bevor wir am nächsten Tag die Rückreise nach Madrid antraten, wollten wir noch die Hinweise auf Dr. Monods Nachkommen verfolgen. Direkt im Ortskern begann die Strasse, die ziemlich steil und schwindelerregend gewunden zum Château du Caire führte – mehrere Kilometer entfernt, weit oben auf dem Berghang gelegen. Dort sollte Bernard Monod leben, ein Neffe des Arztes, der jedoch nicht da war. Die merkwürdigen Leute, von denen die Buchhändler gesprochen hatten, entpuppten sich als Drogenabhängige in der Rehabilitation, die dort Pferde pflegen, und ein netter Ire informierte uns über vieles. So erzählte er zum Beispiel, dass man von dort oben an klaren Tagen einen wunderbaren Blick auf die ganze Küstenlinie habe und sogar Korsika, Napoleons Heimatinsel, in der Ferne ausmachen könne. So sei es sicher kein Zufall, dass die Villa einst Napoleons General Massena gehört habe. Vom Château du Caire aus gibt es noch heute einen Weg, der zu Les Villars und nach Courmettes führt, die alle etwa auf gleicher Höhe liegen. Früher soll die Gegend landwirtschaftlich mehr genutzt gewesen sein als heute, mit Anbau auf Terrassen, deren Reste man immer noch sehen könne, und vielen Ziegen-, Schaf- und Kuhherden.
Nach einem letzten Blick von diesem fantastischen Aussichtspunkt aus auf die diesig verhangene Küste fuhren wir wieder hinunter nach Tourrettes. Unser Besuch endete hier – er liess viele Fragen offen, die hoffentlich wenigstens zum Teil schriftlich gelöst werden können. Etliche Briefe sind schon unterwegs…
Maja Tovar
Madrid, 20.08.04