Anna Seghers, Artur Streiter und Der letzte Mann der ‘Höhle’

Anna Seghers
geb. 19.09.1900 in Mainz
gest. 01.06.1983 in Ost-Berlin

Als wir vor nicht allzu langer Zeit von der Anna-Seghers-Gesellschaft den Hinweis bekamen, dass die berühmte Autorin in einer Erzählung aus dem Jahre 1929 die Kaverno und die Auflösung der Kommune auf Korsika thematisierte, lag die Überlegung auf der Hand, dass die Information dazu von Artur Streiter gekommen sein könnte oder, dass er als Bindeglied in einer Erzählkette fungierte.
Ende 1929 veröffentlichte die noch sehr junge Autorin, die bereits durch den Erfolg von Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara (1928) bekannt geworden war, eine kurze Erzählung, in welcher die Kaverno und ihr Scheitern auf der Insel Korsika als Hintergrund für eine Auseinandersetzung über die Wege zum alternativen Leben bzw. revolutionären Wandel kolportiert wurde („Der letzte Mann der ‚Höhle’“. Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 22. 12. 1929. 2. Morgenblatt).
Wie die Herausgeber ihrer Werke betonen, setzte Anna Seghers „mit ihrem Frühwerk Signale eines unwiderruflichen Ausbruchs aus der bürgerlichen Normalität“. Hier findet also die Behandlung des Themas der Utopie ihren Rahmen. Sie konstruiert ihre Erzählung als Gegensatz von unterschiedlichen Positionen zum alternativen Leben. Eine davon, ausgerechnet die von unserem Filareto, war zum Scheitern verurteilt.

Es ist selbstverständlich nicht unsere Aufgabe, über Anna Seghers Werk zu schreiben. Uns interessiert primär, die Quellen zu erhellen, die Anna Seghers für diese Erzählung benutzt hat, wie und wo sie etwas über das utopische Projekt Filareto Kavernidos gehört hatte. Hierzu muss man anmerken, dass Kavernido Berlin bereits 1925 verlassen hatte, also in dem Jahr, in dem die frischverheiratete Seghers gerade in die Hauptstadt gezogen war. Bekanntlich hatte Dr. Goldberg seine Heimat Hals über Kopf Richtung Ausland verlassen. Hintergrund der Flucht Kavernidos war die drohende Verurteilung wegen Verbrechen aus der Vorkriegszeit, die immer noch anhängig waren. Teile der Gruppe schlossen sich ihm in Südfrankreich an. Einige kehrten nach und nach zurück. Goldberg dagegen kam nie wieder nach Deutschland. Vier Jahre nach dieser Flucht also erfuhr Anna Seghers die Geschichte über Korsika, welche das Ende des europäischen Abenteuers markierte. Offensichtlich beeindruckte sie die Geschichte und sie nutzte sie, um Überlegungen über die verschiedenen Wege zur Befreiung literarisch darzustellen. Ihr Interesse galt den alternativen Modellen zur bürgerlichen Gesellschaft und wie man diese zu transformieren gedachte. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Figur, die sie G. nennt, die das Pendant zu Filareto in der Erzählung bildet, tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten mit dem anderen Leitmitglied der Kaverno aufweist; wir meinen damit Gerhard Schöndelen[1]siehe Chronik der Familie Schöndelen. Die Positionen, die diskutiert werden, sind offensichtlich rein fiktiv, es ist uns nicht bekannt, ob der in Seghers Erzählung erwähnte G. solche Ideen vertrat..

Dank der uns in den letzten Jahren zugegangenen Dokumente und Erkenntnisse, unter anderem vom Artur-Streiter-Arbeitskreis, glauben wir, dass Artur Streiter dieses Bindeglied zwischen der Kaverno und Anna Seghers sein könnte.

Ende der zwanziger Jahre – die Kaverno war längst nach Frankreich, Korsika und zuletzt Haiti bzw. in die Dominikanische Republik ausgewandert – lebte Artur Streiter noch im Roten Luch aber kam häufig nach Berlin. Er malte, schrieb Gedichte und veröffentlichte Artikel in diversen Zeitungen und Zeitschriften. Er näherte sich immer mehr den Kreisen der traditionellen und neuen linken Organisationen von Schriftstellern und Künstlern, wie etwa dem von Anna Seghers mitbegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Hier vermuten wir den Kontakt zwischen Seghers und dem 4 Jahre jüngeren Streiter.

Berliner Volks-Zeitung, Beiblatt, 5.11.1929, Der glückliche Herr Doktor

Im November 1929 wurde in der Berliner-Volkszeitung der oben abgebildete Artikel mit dem Titel „Der glückliche Herr Doktor über die Übersiedlung der Reste der Gruppe nach Haiti und in die Dominikanische Republik veröffentlicht, in welchem mit leicht ironischem Ton das Scheitern des Projektes geschildert wird. Geschrieben ist der Artikel angeblich Ende August, relativ früh wenn man bedenkt, dass die Reise Filaretos nach Haiti Anfang Juli begonnen hatte und sie also erst gegen Ende Juli in Arroyo Frío angekommen waren. Er trägt keine Unterschrift, aber es erscheint auf derselben Seite wie der Artikel Streiters „Erfahrungen aus dem Leben eines Malervagabunden“. Wer könnte sonst in Berlin über Filareto informiert gewesen sein und darüber in dieser Zeitung eine Meldung gebracht haben? Jedenfalls, wenn nicht Artur Streiter, muss es jemand gewesen sein, der in Kontakt mit beiden uns hier interessierenden Parteien war[2]Vom Artur-Streiter Arbeitskreis erfahren wir eine solide fundierte Meinung, die zwei Gründe anführt, weswegen der Artikel nicht Streiter zugeschrieben werden sollte: zum einen der Stil, der Duktus, … Fußnote vollständig anzeigen. Sei Artur Streiter der Autor oder nicht, so sind diese und ähnliche Informationen und Meinungen mit seiner wahrscheinlichen Vermittlung in irgendeiner Form an Anna Seghers gelangt. Es gilt hier auch, was die Beobachter und Forscher dieser sozialen Bewegung immer wieder über die Mitglieder dieser Kreise betonen: es waren nicht viele, die aktiv an den verschiedenen Strömungen der Alternativen teilnahmen, und sie kannten sich alle. Jeder wusste über den anderen Bescheid und interessierte sich für dessen Erfolge… und Misserfolge, wie es typisch menschlich ist. Es erscheint also sehr wahrscheinlich, dass sich zwischen Seghers‘ und Streiters Kreisen immer wieder Berührungspunkte ergaben, zumal beide etwa gleichaltrig waren, in Berlin wohnten, und – was nicht unwichtig ist – sich in einer ähnlichen Lebenssituation befanden: künstlerisch und schriftstellerisch mit mehr oder weniger Erfolg tätig, politisch interessiert und aktiv, jungverheiratet, mit dem ersten Familiennachwuchs. Über Hannchen und andere ehemalige Mitglieder der Kommune hat Streiter vermutlich die Geschichten über die Auflösung der Gruppe auf Korsika und den Fortgang von Goldberg nach Haiti gehört, einige der Mitglieder waren ja nach Berlin zurückgekommen.

Diese Interpretation basiert nicht auf Fakten, sondern auf Vermutungen und auf der Kombination von Erkenntnissen, die nach so vielen Jahren zum Teil fragmentarisch oder konfus sind. Aber die Wahrscheinlichkeit scheint uns groß genug zu sein, um es als Vorschlag für weitere Recherchen darzubieten.

Quellen:
Tagebuch Artur Streiters
Spuren in der Landschaft
www.filareto.info
Anna Seghers – Der letzte Mann der ‚Höhle‘

Santiago Tovar, Madrid
August 2022

Fußnoten

Fußnoten
1 siehe Chronik der Familie Schöndelen. Die Positionen, die diskutiert werden, sind offensichtlich rein fiktiv, es ist uns nicht bekannt, ob der in Seghers Erzählung erwähnte G. solche Ideen vertrat.
2 Vom Artur-Streiter Arbeitskreis erfahren wir eine solide fundierte Meinung, die zwei Gründe anführt, weswegen der Artikel nicht Streiter zugeschrieben werden sollte: zum einen der Stil, der Duktus, der nicht seiner ist. Zum anderen, dass er bestimmt keine Artikel veröffentlicht hat, die nicht seine Unterschrift trugen