Zahlenstärke und Zusammensetzung der Kommune

Analyse aus den Artikeln in “L’en Dehors” zwischen 1926 und 1933 und anderen Quellen und Berichten

Von Santiago Tovar

Aus den Berichten in der anarcho-kommunistischen Zeitschrift „L’en Dehors“ von und über Filareto Kavernido und aus anderen Veröffentlichungen haben wir einige Angaben über die schwankenden Mitgliederzahlen der Kommune ausgesucht. Diese Berichte enthalten ausserdem viel interessantes Material über das Leben in der Kommune und die praktische Umsetzung der theoretischen Ansichten – die Organisation, die Erziehung, die sexuelle Freiheit, die Wirtschaft, die Auseinandersetzungen usw. Die Auswertung des gesamten Materials, etwa 10 Berichte und Nachrichten, die einige Korrekturen der bis jetzt angenommenen Angaben mit sich bringt, ist nach und nach erfolgt. Die meisten hier verwendeten Angaben stammen aus den Briefen und Berichten von Filareto Kavernido selbst, welche zum grossen Teil in „L’en dehors“, Paris-Orléans zwischen 1926 und 1933 veröffentlicht wurden. Wir haben fast alle Hefte dieser Jahre durchgesehen. Ausserdem haben wir eigene Archivrecherchen sowie Gespräche mit Nachkommen der Kommune ausgewertet und benutzt. Wir haben auch die Esperanto-Publikation Sennacieca Revuo (SR) aus dem Jahre 1921 ausgewertet.

Die Kommune wurde 1919 gegründet, mit Zentrum in Berlin-Mitte – Mulackstrasse – und in der Umgebung von Berlin: erst Spreenhagen, danach (1921) Rotes Luch. Stützpunkt in Düsseldorf-Eller und eine Zeitlang angeblich auch in Wien. Mitgliederzahl unbekannt, stark schwankend.

Die Sennacieco Revuo vom Dezember 1921 spricht von einer Gruppe von ca. 30 Menschen. Darüber hinaus gibt es einen Kreis von Sympathisanten und Förderern, die auch in der Kolonie Rotes Luch einige Tage verbringen oder zu Besuch kommen. Das Magazin SR spricht ausserdem vom Gemüseanbau und einem Behelfsstall mit einer Ziege, Hühnern und Kaninchen. Für die Anfangsphase bis 1924-25 sind uns inzwischen mindestens 10 Mitglieder namentlich bekannt. Zu Filareto Kavernido, Hannchen Gloger und Mally Michaelis können wir jetzt das Ehepaar Alois und Anna Schenk (geb. Beyer) rechnen; Adolf Mosch; Anna Neh, Anni die Näherin aus Mariendorf  und ihre Kollegin Helene Boche; dazu käme der Ingenieur Adolf Rohrmann und der angehende Journalist und Maler Artur Streiter, die beide, nach der Bezeichnung der Kommune selbst, nicht als “Stammmitglieder” sondern als “Laufgenossen” zu zählen wären, da sie nicht ständig mit der Gruppe lebten. Zusammen kommt man hier auf  mindestens 11 Kinder  und zwar: Hannchen – 4 Kinder: Lotte (1913), Grete (1914), Vertuemo (1921) und Sajero (1923); Mally – 3: Joyigemo (1921), Esperoza (1923) und Faro (1925); Anna Schenk – 3: Lotte (1916), Dora & Flora (1924).

Aus der Düsseldorfer Gruppe haben wir mindestens 4 Erwachsene: Gerhard Schöndelen und Agnes Kautz mit 7 Kindern – (Mathilde (1912), Klein Agnes (1914), Regina (1916), Gerhard (1917), Karl (1919), Veremino (1923), von deren Existenz wir aus Libereso Nr. 15, August 1924 wussten aber nicht zuordnen konnten. Nun wissen wir, sie ist die vorletzte  Tochter von Gerhard Schoendelen und Agnes Kautz. Hinzu kam Agemino (1924), die letzte Tochter von Agnes. Elisabeth Burkhardt hatte Kurt (1920) und Helena (1925), die auch eine Tochter von Gerhard Schoendelen ist. Dazu Sunozino (1925), die Tochter von Elisabeth Burkhardt und Gerhard Schoendelen; diese erste Sunozino starb 1926 in Les Villars; ausserdem ist Carl Uhrig da, von dem wir nicht genau wissen, wann er zur Gruppe kam.

Die Kinder der Kommune sprechen für die Zeit um 1925 von höchstens ein paar Dutzend, Rumpelstilzchen von etwa 30 zumeist jungen Menschen, Harry Wilde nennt keine Zahl, aber er erwähnt gemeinsame Aktivitäten von 10-15 Leuten (im Jahre 1925). Im selben Jahr schreibt Filareto an Margarete Hardegger, Zürich, von Paris aus. Er fragt, ob seine Gruppe sich der schweizer Kommune von M. Hardegger anschliessen kann und behauptet, sie würde aus 12 Erwachsenen und 17 Kindern bestehen. Es kam bekanntlich nicht zu diesem Anschluss, und die Reste der Gruppe kamen in 2 oder 3 Gruppen schliesslich nach Tourrettes.

Nach dem Umzug nach Frankreich berichtet Filareto Ende Dezember 1926, sie seien 10 Erwachsene und 1 Kind (was verwundert, denn immerhin wissen wir von mindestens 4 Kindern von Mally, die gerade Victor zur Welt gebracht hatte, 7 Kinder von Agnes, 3 Kinder von Elisabeth Burckhardt und 3-4 von Anna Schenk. Vermutlich soll es 17 statt 1 heissen). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Krise in der Gruppe bereits stattgefunden, als Hannchen mit ihren 5 Kindern und weiteren Mitgliedern die Kommune verlassen hatten und nach Deutschland zurückgefahren waren. Er erwähnt diesen Zwischenfall, der vermutlich sich zum Ende des Sommers 1926 ereignete, nicht. Ausserdem erwähnt er in diesem Bericht, dass 10 weitere Erwachsene mit 2 Kindern aus Berlin nachkommen sollen, sobald sie die Einreisegenehmigung für Frankreich erhalten. Er schreibt, dass wenn 20 Arbeitskräfte kämen, sie die Bedingungen für eine Kommune von bis zu 200 Mitgliedern vorbereiten könnten. Die Kommune lebte damals auf der Farm Le Villars, Les Courmettes, oberhalb von Tourrettes und hatte einen Pachtvertrag mit dem Sanatorium. Offenbar hatte Filareto hier optimistische Pläne für die Schaffung einer sehr grossen Gruppe. Es kam wohl nicht dazu.

5 Monate später, im Mai 1927, berichtet er, sie seien 8 Männer (4 Deutsche: Filareto, Karl Uhrig, G. Schöndelen und Alois Schenk, nach unserer Vermutung; 2 Bulgaren; 1 Tscheche und 1 Franzose). 4 Frauen (Mally, Agnes, Anna und Elisabeth) und ausserdem 18 Kinder, drei davon in Tourrettes geboren (wir wissen es handelt sich um Victor, Juli 1926, Amozino, Februar 1927 und die zweite Sunozino 1927, die eine Tochter von Elisabeth und Alois Schenk ist). Tolle, wundersame Vermehrung wenn in der Kommune 6 Monate früher nur 1 bzw. 10 Kinder waren!

Im August 1927 erwähnt er die Zahl von 12 Mädchen in der Kindergruppe.

2 Jahre später, Mai 1929 – Die Kommune ist jetzt auf Korsika, in der Nähe von Ajaccio, vermutlich sind sie Ende des Jahres 1927 / Anfang 1928 übergesiedelt. Wir hatten als Gründe der Übersiedlung wirtschaftliche und gesetzliche Schwierigkeiten in Tourrettes angenommen. Das wird in diesem Bericht von Filareto bestätigt. Filareto spricht von Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, die soweit geht, dass sie zur gegenseitigen Anzeige von vermeintlichen Straftaten und zu den entsprechenden gerichtlichen Untersuchungen führen. Es geht um Geld, Vorwürfe von Misshandlungen, Anzeige wegen Abtreibung usw. Dies hatte bereits in Tourrettes angefangen, setzt sich aber auf Korsika weiter. Die Ausweisung droht. Ausserdem erkranken mehr als 20 Mitglieder der Kommune an der Malaria (wir wissen mindestens von einem verstorbenen Kind). Viele kehren zurück. Das Geld ist alle, weil die Mitglieder – ein Teil arbeitet in der Stadt in Werkstätten und Fabriken, der Rest auf dem gepachteten Grundstück in der Landwirtschaft – ihre Anteile nicht mehr einzahlen bzw. zurückverlangen, und der Pachtvertrag bis zum Monat Oktober bereits bezahlt ist. Die Gruppe war offensichtlich so gross geworden, dass sie Filaretos Kontrolle entglitt. Er gab also auf und beschloss, sein Glück in Haiti zu probieren. Die Gruppe besteht nun aus: 2 Männern, 1 Frau und 4 Kindern (Filareto, Karl Uhrig, Mally, Joyigemo, Esperoza, Faro und Victor). Ihnen wird der Aufenthalt in Haiti nicht genehmigt. Um der sofortigen Ausweisung zuvorzukommen reisen sie in einem Auto, das sie mit den letzten 100 Dollar mieten können, über die Grenze nach Santo Domingo. Es ist der 1. August 1929. Von dort werden sie nach Arroyo Frío als Siedler zügig weitertransferiert.

Januar 1930: Filareto berichtet an die französische Zeitschrift aus Arroyo Frío: Sie haben jetzt ein Stück Land, 13 Hektar gross. Sie bearbeiten das Land, haben Unterstützung von der Regierung und von den Nachbarn, auch Kleinfamilien. Der Priester besucht sie und findet alles in Ordnung. Die Behörden sind zufrieden. Sie wollen ihn auch als Arzt haben. Er ruft Sympathisanten dazu auf, in dieser schönen Natur mit ihnen in Freiheit zu leben. Er verteidigt sein Modell, das von einigen Anarchisten als kapitalistisch-kleinbürgerlich kritisiert wird, und begründet eine Form des Zusammenlebens, das haptsächlich auf individuelle Freiheit und friedliches Nebeneinander mit der etablierten Macht basiert. Dazu braucht man allerdings keine vertraglichen Regelungen mit den Mitgliedern der Kommune, alles regelt sich von selbst. Offensichtlich leben sie als Kleinfamilie und diejenigen, die aus Europa seinen Ruf folgen, bekommen auch ein Stück Land von der Regierung zur Verfügung gestellt und helfen einander und kooperieren miteinander. Zusammenwohnen tun sie aber nicht.

Im Juli 1931 zählt er sein „Eigentum“ auf: 3 Kühe mit Kälbern, 3 Pferde, 65 Stück Geflügel (Hühner, Puten, Gänse und Pfauen), ein Paar Schweine und 12 Bienenkörbe. Dazu 13 Hektar mit Gemüse und Getreide. Geld brauchen sie eigentlich nur für Petroleum, Seife oder Postsendungen. Die Zahl der Mitglieder gibt er nicht an, offensichtlich ist sie konstant geblieben. Jeder aus Europa dazugekommener Siedler wirtschaftet im Prinzip für sich allein.

Im August 1932 haben sie bereits 4 Kühe und 4 Pferde, darunter ein sehr schönes, mit dem er in einigen Stunden an die wunderschöne atlantische Nordküste reiten kann.

Im März 1933 schreibt er, dass an der Hauptmahlzeit etwa 12 bis 16 Menschen einschliesslich Kinder zusammenkommen. Offenbar nur zum Essen, ansonsten wohnen die Kommunarden in getrennten Hütten. Diese Nachricht wird erst im August veröffentlicht. Filareto ist bereits seit Ende Mai tot.

September 1933, in der Nummer 262 bringt die Zeitung „L’En dehors“ die Nachricht seines Todes, verfasst vom Herausgeber der Zeitung E. Armand , mit dem Filareto oft polemisiert hatte.

(ST 2006, aktualisiert 10.2023)