Chronik der Familie Burkhardt

Elisabeth und Albert Burkhardt
mit Sohn Kurt

2007 erhielten die Herausgeber dieser Internetseite www.filareto.info den Anruf einer Ärztin aus einer kleinen Stadt am Nordrand des Harzes bei Wernigerode. Einer ihrer älteren Patienten hatte ihr aus seinem Leben als Kind in der Kaverno di Zaratustra erzählt. Daraufhin sei ihre Tochter bei einer Internetrecherche auf die Filareto-Seite gestoßen. So entstand der Kontakt zu Kurt Burkhardt, der uns bereits am nächsten Tag anrief und den wir kurze Zeit später in Zeitz, seinem Wohnort besuchten. Ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis, obwohl manchmal rekonstruierte sekundäre Erinnerungen das Bild verfälschten und manche Fakten in idealisierter Form dargestellt wurden, erzählte er uns ausführlich aus seinem Leben als Kind in der Kommune. Hier ist die Zusammenfassung der mit Kurt Burkhardt, inzwischen leider verstorben, 2007-2009 geführten Gespräche.

Kurt Burkhardt wurde am 27. Mai 1920 (oder 1919?) in Aken an der Elbe als Sohn von Elisabeth (1893) und Albert geboren. Albert (Jahrgang 1898) war im Krieg wohl als Matrose gewesen, später Mitglied des Spartakusbundes, und nach dem Aufstand des Jahres 1919 anscheinend infolge von schlecht behandelten Verletzungen und anderen Entbehrungen 1921 verstorben. Laut Kurts Erzählung soll er als Matrose der Binnenschifffahrt Kurierdienste auf der Elbe bis nach Hamburg für die Spartakisten geleistet haben. Kurts Mutter sei dann mit Sohn Kurt zu der Schwiegerfamilie gegangen, die elf Kinder hatte, bevor sie dann zurück in ihre Heimatstadt Magdeburg gingen. Dort wohnten sie einige Zeit „oberhalb der Strombrücke“, anscheinend bei ihrer Familie.

März 1924 seien sie dann nach Düsseldorf gegangen und dort Kontakt zu Gerhard Schöndelen und seiner Frau Agnes (die große Agnes) hergestellt, welche die Kinder Mathilde *1912?, Gerhard *1917 und Karl *1920?, Agnes (kleine Agnes) *1916? und Regina *1919? hatten. Schöndelen und die grosse Agnes kennen wir aus anderen Berichten. Schöndelen war das Haupt einer Gruppe, die sich der von Goldberg gegründeten Kaverno zugehörig fühlte; seine Gruppe hatte das Haus der “Freien Erde” in Düsseldorf-Eller ca. 1921 besetzt; in diesem Haus lebte dann die Gruppe gemeinschaftlich nach den anarcho-kommunistischen Grundsätzen. Es ist sicherlich übertrieben, aber Zeitzeugen sprechen davon, dass Schöndelen “7 Frauen, 7 eigene Kinder und mit jeder Frau 1, 2 oder 3 Kinder” hatte. Und sie alle wohnten in dem Haus, wie der selbe Zeitzeuge alarmiert berichtet: “Sie wollten Nacktkultur und freie Liebe einführen, zusammen im Gemeinschaftsraum leben, essen, schlafen und lieben!”

Von dort aus kamen Mutter Elisabeth und Sohn Kurt einige Monate später, im Juli 1924 nach Berlin, wie und warum konnte Kurt uns nicht genau sagen. Dort schlossen sie sich der Kaverno an. Ob sie in der Mulackstrasse 21 mit den anderen gemeinsam oder in einer anderen Wohnung Quartier fanden wusste Kurt nicht mehr so genau, jedenfalls hat er für uns die Mulackstrasse (ohne Nummer) als Adresse aufgeschrieben. Inzwischen wissen wir durch die an uns 2020 gelangten Memoiren von Adolf Mosch, dass andere Mitglieder der Gruppe auch zwischen Düsseldorf und Berlin pendelten.

Er erzählte von Filareto, konnte sich auch an Hannchens Kinder Lotte, Grete, Vertuemo und Sajero, später auch an Joyigemo und Faro, Mallys Kinder erinnern. Um unser Treffen vorzubereiten hatte er sich nämlich eine Liste von Personen gemacht, die er in Erinnerung behalten hatte; auf dieser Liste stehen auch die Namen von Alois und Anna Schenk, Carl Uhlik (er schreibt Karl Urich), Adolf (könnte Adolf Mosch sein) und noch andere Namen ohne Familiennamen von uns nicht bekannten Personen wie ein gewisser Erich, ein Ewald oder ein Eugen (der sie 1926 in Les Villars besucht haben soll). Jahre später würden wir diese Namen bei den Strafanzeigen wegen Erregung öffentlichen Skandals in Frankreich wieder sehen.

Aus der Zeit in Berlin hatte er Museumsbesuche oder etwa den Geigenunterricht im Gedächtnis. An das Rote Luch konnte er sich erinnern, sie seien häufig dort gewesen, es läge nach seiner Erinnerung im Norden von Berlin, bei Bernau, der Bahnhof sei Klosterfelde gewesen. Hier versagt sein sagenhaftes Gedächtnis, kein Wunder wenn man bedenkt, dass er ein 5-jähriges Kind war. Er verwechselt das wahrscheinlich mit späteren Besuchen bei Adolf Mosch in Klosterfelde. Über Aktivitäten dort wusste er nicht zu berichten.

Anfang 1926 sei dann der erste Teil der Kommune nach Frankreich gegangen, in die Nähe von Marseille, es war offensichtlich die Gruppe um Schöndelen aus Düsseldorf-Eller. Wir wissen ja inzwischen, dass Filareto sich bereits einige Monate früher nach Frankreich abgesetzt hatte und von Paris aus sich um einen geeigneten Standort kümmerte. Der Rest kam dann im Mai 1926 von Berlin aus nach Tourrettes, das Haus hieß Les Villars, oberhalb der Stadt. Wir vermuten, dass Kurt und seine Mutter bereits mit der ersten Gruppe von Düsseldorf aus die Auswanderung unternommen haben. Anscheinend hatten sie im Frühjahr Berlin verlassen und sich nach Düsseldorf begeben.

Dort in Les Villars hat er also ca. anderthalb Jahre verbracht. Er erinnere sich, wie sie mit ihren zwei Eseln, Ferdinand und Isabella, häufiger nach Nizza kamen, es waren schöne Ausflüge. Einige der Männer arbeiteten wohl im Sanatorium (Les Courmettes). Er erzählt nicht, dass die Frauen auch dort gearbeitet haben. Er selber habe im Sommer gemeinsam mit dem jungen Gerhard Schöndelen und mit einem nur wenig älteren Franzosen die Ziegen gehütet; es war einige Kilometer weg von der Kommune, oberhalb von Vence. Dort verbrachten die 7 bis 9 jährigen Jungs einige Tage mit den Ziegen (oder Schafen) und wohnten in einer kleinen Hütte. Sie hatten dabei ihre Hefte und Schreibzeug. Dort machten sie die “Hausaufgaben”, die ihnen von Filareto und anderen Mitgliedern der Elterngeneration aufgegeben wurden, welche sie in Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen und Literatur unterrichteten während Carl Uhrig Musik mit ihnen machte. Er wurde nach der Rückkehr nach Deutschland 1929 mit 8 Jahren eingeschult; er sah das erste Mal in seinem Leben eine Schule von innen; und nicht ohne Stolz bemerkt er, dass er den Klassenkameraden in fast allen Fächern weit voraus war. Er wäre für seine sehr gute Mathematikkenntnisse gelobt worden. Die Lernmethoden der Kommune, wie wir bei anderen Kindern festgestellt haben, hatten sein Gedächtnis auch beträchtlich entwickelt. Er hat diesen Unterricht in der Kommune auch nicht als hart, trocken oder langweilig empfunden. Er sagte buchstäblich: “Filareto habe für eine strenge und gute Ausbildung gesorgt, auch in Musik”. Wir konnten Einblick in die ordentlich und sauber geschriebene Hefte und Zeichnungen aus der Kommunezeit gewinnen. Leider sind diese Hefte mit Kurts Tod verlorengegangen.

Januar 1927 seien sie dann komplett mit zwei Eseln und Ziegen nach Korsika gegangen, nach Ajaccio, wo sie am Stadtrand, 300 m vom Hafen weg, lebten. Das von Kurt benannte Datum ist jedoch falsch. Zu diesem Zeitpunkt waren sie bestimmt noch in Les Villars, denn Amozino Schenk  wurde dort im Februar des Jahres 1927 geboren. Wir haben noch andere Anhaltspunkte um mit Gewissheit sagen zu können, dass sie wahrscheinlich erst Ende des Jahres 1927 oder Anfang 1928 nach Korsika gezogen sind. Dort zogen sie nach seiner Erinnerung in ein wunderschönes, freistehendes Haus, die „Villa Miramar“ oberhalb der Stadt, in der Nähe einer Burg. An die Überfahrt auf die Insel kann er sich nicht erinnern, aber das muss ein mitnehmender Anblick gewesen sein: die bärtigen, langhaarigen Männer, die vermutlich abgearbeiteten Frauen und die kleine Kinderschar extravagant und ärmlich gekleidet, mit kümmerlichen Habseligkeiten, ein paar landwirtschaftliche Werkzeuge, die zwei Esel und die Ziegen alle auf einem kleinen Schiff. Dem Umzug war ja bekanntlich eine tiefe Krise vorausgegangen, bei der Streitigkeiten und ein richtiger Bruch in der Gruppe stattgefunden hatten. Die Stimmung muss folglich gespannt gewesen sein und doch voller Hoffnung und Erwartungen auf das, was die neue Heimat den übriggebliebenen Mitgliedern der Gruppe anbieten wird.

Über die Zeit auf Korsika hat er wenig zu berichten. 1929 habe sich die Kommune aufgelöst: für ihn heisst es, dass seine Mutter mit seiner (Halb-) Schwester Helena und ihm zurück nach Deutschland, nach Zeitz eigentlich geflohen sei. Er habe zwei Halbschwestern: Sunozino (Sonnenschein), *1927, gestorben 1929 auf Korsika an Malaria, und Helena, *1925 -1.1.2004, Vater Gerhard Schöndelen. An die erste Sunozino, Tochter von Mutter Elisabeth und Schoendelen, geboren 1925 in Düsseldorf und gestorben in Les Villars im ersten Sommer dort, 1926, kann er sich nicht erinnern, vielleicht war er zu jung war und weil diese Sunozino von der Grossen Agnes offenbar betreut wurde. Seit dem lebe er in Zeitz. Über die Flucht erzählte er uns, dass es seiner Mutter zusammen mit einer anderen Frau mit Kindern beim zweiten Versuch gelungen sei, sich heimlich davon zu machen und zur Fähre im Hafen zu finden. Einige Männer der Kommune versuchten die Frauen und Kinder mit Gewalt am weggehen zu hindern. Der Kapitän der Fähre überzeugte schliesslich die aufgebrachten Kommunarden angeblich mit gezogener Pistole davon, die Frauen nicht von Bord zu holen und ziehen zu lassen. So kamen sie wohl kurz vor dem Sommer mit Hilfe des deutschen Konsulats in Marseille nach Deutschland. Kurt kann sich nur indirekt daran erinnern, dass der Auflösung der Kommune der Malariaaussbruch vorausgegangen war, und dass Kinder und wohl auch erwachsene starben, darunter, wie er genau zu berichten weiss, seine Halbschwester Sunuzino (eigentlich Sunozino). Dies wissen wir von anderen Erzählungen, die die Todesfälle und die “Austritte” bestätigen. Die andere Frau mit Kindern war vielleicht die Grosse Agnes. Aber wie wir aus dem Bericht der Familie Schöndelen nun gehört haben, sei sie erst später, 1930 oder 1931, weggegangen. Wir können es nicht überprüfen.

Die Figur Filaretos beschreibt er versöhnlich. Die Zeit in Frankreich und Korsika scheint in angenehmer Erinnerung geblieben zu sein. Von der Auswanderung der Restgruppe um Filareto in die Karibik wußte er nichts konkretes, gab an, er sei bereits mit seiner Familie gegangen und vermutete, daß Mally seine Frau gewesen sein. Hannchen war ihm noch in Erinnerung.

Das Einleben in Deutschland mit seiner Mutter und Halbschwester sei trotz Schwierigkeiten doch gelungen. Sie haben sich in Zeitz wohl vom Anfang an angesiedelt, wo er für immer geblieben ist. Er hegt keinen Groll über die Vergangenheit. Sie unterhielten den Kontakt zu anderen zurückgekehrten Familien. Kurt übergab uns bei unserem Besuch mehrere Bilder, darunter eins von der Familie Schenk aus Liebau vom Anfang der dreissiger Jahre. Nach seiner Erzählung war Alois Schenk der Vater der auf Korsika verstorbenen einjährigen Sunozino, die seine Halbschwester war. Die Schenks waren auch praktisch vom Anfang an dabei gewesen und hatten zur selben Zeit 1929 Korsika und die Kommune verlassen.

Bei unserem Treffen gab er uns auch Kopien von einem Bild von ihm als ca. 10-jähriges Kind und von einem weiteren Bild aus Tourrettes, ca. 1927, auf dem Dr. Monod, Filareto Kavernido, eine Erwachsene Frau und mehrere Kinder zu sehen sind. Auf diesem Bild steht Kurt in der zweiten Reihe, zweiter von rechts. Neben ihm der etwa gleichaltrige Gerhard Schoendelen. Hinter ihm kann man Charlotte, die älteste Tochter der Schenks, klar erkennen. Die zwei Mädchen vorne rechts könnten durchaus Dora und Flora Schenk sein. Die Frau rechts mit Kind auf dem Arm können wir nicht mit Sicherheit einordnen, aber sie scheint weder Mally Michaelis noch die Grosse Agnes zu sein. Ist sie vielleicht Elisabeth Burkhardt mit der kleinen Helena auf dem Arm? Das Mädchen auf Dr. Monods Schulter könnte vielleicht  Veremino, ca. 4 Jahre alt zu der Zeit. Somit hätten wir eindeutig 7 Personen erkannt und 3 weitere mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zugeordnet. Vielleicht gelingt es uns mit etwas Glück, sie noch genau zu identifizieren.

Santiago Tovar

5. 2018 – Aktualisiert 9. 2023