Dr. Heinrich Goldberg
Filareto Kavernido
Diese Chronologie erfaßt alles, was wir heute über das Leben Heinrich Goldbergs alias Filareto Kavernido wissen. Es mag wenig scheinen, doch Anfang 2003 wußten wir so gut wie nichts über ihn. Für die in Deutschland verbliebenen Mitglieder der Familie gab es nur vage Erinnerungen an das, was nach seiner Auswanderung nach Frankreich im Jahre 1926 geschehen war, von wo aus er Jahre später mit einigen Mitgliedern der von ihm etwa 1919-1920 gegründeten Kommune mit unbekanntem Ziel weiterziehen sollte. Man besaß eine eher ungenaue Vorstellung von einem frühen, gewaltsamen Tod irgendwo in der Karibik. Außerdem wußte man, daß er Arzt, Anhänger der Esperanto-Sprache und ein eifriger Propagandist der Ideen Nietzsches und dessen Zarathustra gewesen war und daß er sich selbst als Anarcho-Kommunist bezeichnete. Die Familie besitzt ein unscharfes, einem Ausweis entnommenes und vergrößertes Foto, auf dem ein etwa 35-40 Jahre alter Mann mit Bart und langen Haaren mit einem verträumten und zugleich entschlossenen Blick in die Ferne schaut. Er wird auch in manchen Biographien und Memoiren aus jenen Jahren der Weimarer Republik erwähnt, immer am Rande und etwas unpräzise; so werden etwa seine extravagante Bekleidung und sein imposantes Auftreten in der Art eines Propheten sowie die Kompromißlosigkeit seiner Ideen und Lebensweise geschildert; weiter wird über den Ruf berichtet, den er im Berlin der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Redner, öffentlicher Polemist und Organisator einer Kommune erlangt hatte. Die Wirren der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges trugen dazu bei, viele Spuren seines früheren Lebens und seines Schicksals sowohl aus den Archiven als auch aus dem Familiengedächtnis auszulöschen.
Auch über seine Eltern, seine Kindheit und Jugend, über seine Studentenjahre wußten wir praktisch nichts – ebensowenig wie über seinen Werdegang, der aus dem jungen jüdischen Arzt in Berlin den Führer eines kleinen und radikalen Projektes machen würde, der in der Dominikanischen Republik 1933 ein tragisches Ende finden sollte. Der fast zufällige Fund von Referenzen einiger weniger seiner Schriften, die in Fachbibliotheken Deutschlands und der Niederlande aufbewahrt werden, sowie die Erwähnung seines Todes in einer Gedenknummer der Zeitschrift Progreso, herausgegeben von der IDO-Vereinigung (aus dem Esperanto hervorgegangene Kunstsprache), führten uns auf seine Spur. So konnten wir endlich in Erfahrung bringen, daß er 1933 in der Dominikanischen Republik ums Leben gekommen war. 2003, auf einer Reise nach Santo Domingo und Moca – siebzig Jahre nach seiner Ermordung – war es uns möglich – übrigens auf höchst überraschende, sogar unglaubliche Art und Weise und auch dank der unvorhergesehenen Intervention guter Freunde –, den Kontakt mit den dort lebenden Familienangehörigen herzustellen. Daraufhin führten wir weitere Recherchen in anderen Informationsquellen und in diversen Archiven durch, vor allem in Berlin, die uns die Rekonstruktion der wichtigsten Daten seines Lebens ermöglichten. Dieses Dokument ist das noch vorläufige Ergebnis einer nicht abgeschlossenen Untersuchung.
Letzte Aktualisierung: 10.2024
Tabellarischer Lebenslauf
Geburt von Heinrich Goldberg am 24.07.1880 in Berlin Weißensee als Sohn des Arztes Ludwig Goldberg und dessen Frau Elise Goldberg, geb. Karfunkel. Er hat eine 1884 geborene Schwester, Margarete, gestorben 1912. Deren Tochter Irma, geb. 1909, wächst nach dem Tod von Margarete zeitweise bei den Großeltern Goldberg auf. Sein Vater wurde in der kleinen Stadt Altlandsberg östlich von Berlin am 27. Januar 1856 geboren. 1878 ließ er sich in der alten Gemeinde Weißensee in Berlin nieder. Die Familie besass ein bis 2011 noch erhaltenes Haus, die heutige Berliner Allee 164. Ludwig Goldberg war wirtschaftlich gut situiert: im Jahre 1892 wird er als der drittgrößte individuelle Steuerzahler seiner Gemeinde verzeichnet; 1895 stand er einem großen Haushalt vor, dem fünf männliche und sechs weibliche Personen angehörten, darunter vermutlich auch Dienstpersonal. 1911 steht sein Name im Verzeichnis der größeren Grundbesitzer in Weißensee mit mehreren Grundstücken mit zusammen mehr als 36 Ar Boden. Er unterhielt eine private Heilanstalt in der Feldtmannstraße und war zeitweilig als Armenarzt tätig. Er war aktives Mitglied in der jüdischen Adass Jisroel Gemeinde. Als erster Jude, der überhaupt ein solches Amt innehatte, war er Gemeindevertreter in Alt-Weißensee zwischen 1898 und 1904. Über Ludwigs Ehefrau ist uns noch wenig bekannt.
Über die Grundschuljahre Heinrich Goldbergs, die er wahrscheinlich in Berlin Weißensee verbracht hat, ist uns nichts bekannt. Später besucht er das Köllnische Gymnasium in Berlin-Mitte, ist u.A. Klassenkamerad von Alfred Döblin. Er verläßt das Gymnasium nach der Untersekunda Ostern 1897 und legt sein Abitur 1899 in der Stadt Brandenburg an der Havel ab.
Studium der Medizin in Berlin, Immatrikuliert am 13.10.1900 mit der Matrikelnummer 4450 des 90. Rektorats der Universität zu Berlin. Sein Abgangszeugnis datiert vom 28.10.1904.
Das letzte Studienjahr belegte er an der Universität Freiburg, wohin sein Vater ihn zwangsweise schickte, um das Verhältnis Heinrichs mit Clara Gozdziewicz, die bereits Kinder hatte, zu beenden. Tatsächlich ging aber das Liebespaar zusammen nach Freiburg, wo es mit den Kindern eine gemeinsame Wohnung bezog.
7. Juli 1905 Abschluss des Medizinsstudiums mit Staatsexamen und Promotion beim Neurologen und später als Gerichtspsychiater bekannten Prof. Dr. Hoche an der Universität Freiburg. Dissertationsthema: „Über hysterische Amaurose“. Goldbergs Spezialfächer sind die Psychiatrie und die Gynäkologie. In Freiburg kommt er vermutlich mit der Philosophie in Berührung und zwar über die zu jener Zeit zunehmend verbreiteten und geschätzten Schriften Nietzsches. Auch Döblin promoviert in diesem Jahr bei Prof. Hoche. Wir gehen davon aus, daß die beiden Studenten sich kennen und auch philosophisch und politisch austauschen.
Anstellung als Arzt am Städtischen Krankenhaus Friedrichshain Berlin. Eröffnung einer Privatpraxis für Frauen in Berlin Hohenschönhausen. Verlobung mit Henni Calmon aus Kyritz in Berlin am 24.September 1905 (Anzeige Berliner Tageblatt 26.9.1905).
In einer Zeitungsmeldung (Bozner Zeitung) vom 21.11.1906 ist zu lesen: “Wegen Verbrechens gegen das keimende Leben wurde der Arzt Dr. Heinrich Goldberg in Berlin zu einem Jahr drei Monaten Gefängnis, seine ehemalige Geliebte, Frau Gozdziewicz, zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt”. Wir schätzen den Beginn der Krise im Leben Goldbergs auf diese Zeit. Sein Studienort Freiburg war Anfang des Jahrhunderts eine Hochburg der Nietzsche-Anhänger, so ist es nur wahrscheinlich, daß Goldberg hier Einführung fand in die Gedankenwelt dieses seines späteren philosophischen Vorbildes. Auch dürfte er hier erstmalig mit der Esperantosprache konfrontiert worden sein. Es ist zu vermuten, daß er sich darauf basierend an den Diskussionen zur Gründung des Reform-Esperantos (IDO) im Jahre 1907 beteiligt oder sie zumindest aufmerksam verfolgt. Er bekannte sich in dieser Zeit zunehmend zu seiner agnostischen Haltung und trat schließlich am 15.05.1910 aus der Jüdischen Gemeinde Adass Jisroel. Dezember 1908 hatte er Henny Lucie Calmon (geboren 1883 in Kyritz) geheiratet; die Ehe bekam eine Tochter namens Edith (1909). Sie trennten sich 1913 und liessen sich 1919 scheiden. Henny pendelte einige Jahre zwischen Eltern in Kyritz und Berlin, wo sie sich schließlich niederliess. Sie wurde 1942 nach Sobibor deportiert, wo sie ermordet wurde. Es gibt inzwischen einen Stolperstein in ihrem Wohnort. In einem Zeitungsartikel in der Mariendorfer-Tempelhofer Zeitung vom 25.10.1921 wurde erwähnt: „Seitdem er sich von seiner Frau getrennt hat, war er einige Zeit in Amerika und England…“. Sein Vater Ludwig Goldberg bedenkt in seinem Testament im Jahre 1913 bzw. im zweiten Testament vom 27.02.1914, in welchem er Heinrich wegen dessen Überschuldung enterbt, auch Heinrichs „eheliche“ Kindern; aber weder die Frau noch die Tochter werden namentlich erwähnt. Nach unseren neuesten Informationen hat Edith wohl die Nazizeit überlebt. Im Landesarchiv Berlin hat TG eine Akte aus dem Jahre 1958 gefunden, in welcher sie Wiedergutmachung für bestimmte Vermögenswerte ihrer Mutter, Henny Calmon, beantragt. Darin steht sie als: Edith Königsfeld, geb. Goldberg, 09.04.1909, wohnhaft in Scheschunath Abramowitz, Rischon LeZion, Israel. Es bleibt die Frage, ob es noch andere Kinder gegeben hat. Als Wohnsitze Heinrich Goldbergs sind in dieser Zeit die Treskowstr. 1, Hohenschönhausen Berlin (1910) und die Berliner Str. 118-119 desselben Bezirks (1912 bis 1914) angegeben, wo er als praktischer Arzt verzeichnet ist.
In dem oben erwähnten Zeitungsartikel wird auch im Zusammenhang über einen Prozeß gegen Goldberg wegen der von ihm zu verantwortenden Todesfällen zweier Frauen berichtet, er habe in „… Hohenschönhausen eine Privatklinik für Frauen. Er soll hunderte von Operationen dort ausgeführt und in den Kreisen der Patientinnen sich großer Beliebtheit erfreut haben, da er von unbemittelten nie Honorar zu nehmen pflegte.“ Der Zeitungsartikel, erschienen 1921, bezieht sich auf zwei Todesfälle im Jahre 1911, die „erst jetzt“, also im Jahr 1921 zur Aburteilung kommen. Das Urteil wird mit einer Haftstrafe von zwei Jahren angegeben, „bei sofortiger Verhaftung“. Andererseits wissen wir, daß die frühen zwanziger Jahre die Blüte der Berliner Kommune waren, es ist also unwahrscheinlich, daß Goldberg seine Haftstrafe in voller Länge verbüßt hat. Weiterhin erwähnt der Artikel eine weitere Haftstrafe von 14 Monaten im Zusammenhang mit Vergehen gegen den §218. In einem Jahre später von ihm verfassten Artikel erwähnt er, daß er zahlreiche Länder besucht und viele Jahre in Gefängnissen verbracht habe. Der bereits erwähnte Zeitungsartikel bestätigt diese Angaben. Während seiner Flucht und Reisejahre lernt er Fremdsprachen oder vervollkommnet seine Kenntnisse (Französisch, Englisch, Italienisch, IDO…). Er widmet sich zunehmend der Philosophie und der Literatur. Die Musik, getreu den ästhetischen Prinzipien Nietzsches, spielt ebenfalls eine grosse Rolle in seinem Weltbild. Seine Praxis betreibt er bis 1911, als er sie schliessen muss. Wahrscheinlich hat er auch seine Approbation dann verloren.
Es sind sicher verschiedene Gründe, die dazu führen, daß Heinrich Goldberg 1913 eine entscheidende Krise erlebt und dem psychischen Zusammenbruch nahe kommt. Sicherlich spielt eine diffuse Unzufriedenheit mit den allgemeinen Verhältnissen eine Rolle sowie die enger werdende Bedrohung durch die Justizbehörden, die ihn seit 1906 bereits wegen mehrerer ärztlichen Delikte verfolgen. Seine Familie versucht, ihn von seiner depressiven Stimmung zu befreien, indem sie mit ihm eine Reise mit dem Schiff nach Amerika unternehmen. Am 1.5.13 verlassen sie Hamburg, ausser Heinrichs Eltern sind Ehefrau Henny und die kleine Edith dabei (Passagierliste der HAPAG). Sie treffen in New York am 10.5. ein und besuchen ausserdem Detroit und die Niagara Falls. Danach, einem von HG in La Socio Jahre später geschriebenen Artikel zufolge, fuhren sie nach Spanien und Italien. Pompeji, Neapel, und Como sind die uns bekannten Stationen. In Como verlässt HG seine Familie, fährt zuerst in die Schweiz und danach nach Paris und London. Hier ist der endgültige Bruch mit seinem früheren Leben: mit der Familie, mit dem Beruf; jetzt übernimmt er den neuen Namen Filareto Kavernido. Seine Spur verliert sich für uns in England. Hier gibt der zitierte Artikel der Mariendorfer Tempelhofer Zeitung nur am Rande den Hinweis, daß Goldberg zu Beginn des Krieges in England interniert worden sei, was aus anderen Quellen auch hervorgeht. Angeblich, nach eigenen Angaben, verbringt er 3 Jahre im Lager. Dort (laut Adolf Mosch, Autobiographie) wird er zum Anarcho-Kommunist. Möglicherweise was er zu jener Zeit in Kontakt mit dem führenden Anarchisten Rudolf Rocker. Am 28.01.1917 stirbt sein Vater Ludwig Goldberg. Er wird auf dem Friedhof der Gemeinde Adass Jisroel in Berlin beerdigt. Das Grab existiert noch. Er hatte 1913 Heinrich wegen Überschuldung enterbt. Seine Haupterben sind seine Ehefrau; Heinrich Goldbergs Kinder sowie die Tochter seiner verstorbenen Tochter Margarete; Nacherben die „ehelichen Kinder“ Heinrichs. Den Wert seines Testaments gibt Ludwig Goldberg 1913 mit 120.000 Mark an, nach heutigem Stand ca. 1 Mio Euro. Heinrich Goldberg kommt also November 1918 nach Berlin zurück, wie er selber in einem Brief schreibt, sofort „nach der Revolution“, und zwar von Den Haag aus, wo er zumindest die letzten Monate von 1918 verbracht hat. So kommt Goldberg, bereits als Filareto Kavernido zurück in ein Berlin des Aufbruchs, dem idealen Nährboden, seine Theorien, die er im Ausland weiterentwickelt hat, in die Praxis umzusetzen.
Eine der ersten organisatorischen Aktivitäten Goldbergs ist die Gründung einer Gruppe. Er ist in die Hausmeisterwohnung der Mulackstr. 21, im Scheunenviertel eingezogen (das Gebäude existiert noch). Wahrscheinlich vermittelt die Stelle seine Mutter, die seit spätestens Mai 1918 in der Rosenthalerstr. 62 wohnt, über ihre Geschwister und Hauseigentümer, die Karfunckel. Er sammelt einige Handwerker und Schneiderinnen sowie junge Arbeitslose aus diversen Stadtteilen Berlins (z.B. Mariendorf) um sich. Diese Menschen werden von seinen Vorschlägen und sofortigen praktischen Lösungen angezogen, die eine Kombination von utopischen Ideen des Kleinhandwerks- und Agrarkommunismus mit philosophischen und moralischen Grundsätzen der deutschen Philosophie, insbesondere Nietzsches, sind. Strenge Disziplin und die Erziehung zum Verzicht und zur Abhärtung des Individuums auf dem Weg zum Übermenschen sind Bestandteile dieses Ideenkatalogs. Dem Anarchismus entnommene Gedanken wie Dezentralisierung, Ablehnung der Staatsregulierung und Individualismus sowie Pazifismus und Internationalismus (dessen Artikulationsform die internationale Sprache Esperanto btw. Ido darstellen soll) gehören ebenso dazu wie die in manchen revolutionären Kreisen damals gängigen Ideen zur Gesundheit, Natur, Zerschlagung der Ehe und freien Sexualität. Er gründet die Kommune „La Kaverno di Zaratustra“ (dieser Name steht in der IDO-Sprache für „Die Höhle des Zarathustra“ und ist Ausdruck seiner Bewunderung für die Ideen Nietzsches). Er hat die bürgerlichen Konventionen und Kleidung abgelegt und läuft „mit langen Haaren, einem schwarzen Vollbart und bekleidet mit einem weissen, langen Umhang, der einen Arm frei liess… herum, an den Füssen trug er Sandalen. Jedenfalls immer Aufsehen erregend und bisweilen Spott auf sich ziehend, was ihn aber gleichgültig ließ.“ (Aus der Aufzeichnung seines Sohnes Vertuemo). Er betrachtet sich als Propagandist, als „Jünger“ Nietzsches und als Prophet; er hält Vorträge und beteiligt sich an öffentlichen Diskussionen in Berlin. Aus der Zeitung “Freiheit” vom 24.5.1919 haben wir ein kleines Inserat, das einen öffentlichen Vortrag über Goethes “Faust” von Dr. Heintirich Goldberg ankündigt. “Eintritt frei, freie Diskussion”, in der Aula der Sophienschule, Weinmeisterstrasse 17. In einem anderen Artikel aus der Tempelhofer Mariendorfer Zeitung vom 13.06.1921 wird von der Einladung Goldbergs durch den Weißenseer Arbeiter Elternbund berichtet, einen Vortrag zum Thema: „Über die Unfähigkeit der Sozialisten und Kommunisten, ihre Anhänger für höheren Kulturstufen reif zu machen“. Er schart eine Gruppe von Gleichgesinnten verschiedener Gesellschaftsschichten um sich, deren Anzahl ein paar Dutzend sicherlich nicht überschreitet und ausserdem stark fluktuiert. Während der Revolutionsmonate scheint er sich mit seinen Propagandabemühungen im Umfeld linker Revolutionäre und Rätekommunisten zu bewegen. Er war sehr schnell von dem „nach der Revolution herrschenden neuen Geist, der wirklich noch bürokratischer war als der des alten Regimes, enttäuscht“, wie er in La Socio Jahre später schrieb. Somit versuchte er mit umso grösserer Überzeugung, „seinen eigenen Weg zu gehen“. Doch manche der Kommunemitglieder stammen aus diesem Umfeld; so Johanna Gerbeit, geb. Gloger (Hannchen) die mit Rosa Luxemburg bekannt war. Bald freilich kapselt sich die Kommune aufgrund ihrer Tagesaktivitäten und wirtschaftlichen Ziele mehr und mehr von den klassenkämpferischen Organisationen ab, die FK strikt ablehnt.
Goldberg ist unter der Berliner Adresse Rosenthaler Str. 62 (das Gebäude existiert noch, hier wohnte seine Mutter) als Arzt verzeichnet. Er korrespondiert mit verschiedenen Führern der europäischen anarchosyndikalistischen Bewegung (darunter auch mit R. Grossmann alias Pierre Ramus, nur ein Brief erhalten) und bemüht sich mit geringem Erfolg um die Anerkennung seiner theoretischen und praktischen Vorschläge zur Gesellschaftsveränderung. Veröffentlichung der „Mitteilungsblätter der Höhle von Zaratustra“. Es erscheinen insgesamt 3 Hefte mit den Titeln „Kulturphilosophische Betrachtungen“, „Zivilisation und Kultur“ und „Kulturkampf statt Klassenkampf“ im Selbstverlag der „Verlagsgruppe La Kaverno di Zaratustra“ unter der Adresse Mulackstr. 21, Berlin Mitte. Außerdem hat er ein Stück Land mit einer primitiv ausgebauten natürlichen Höhle im Roten Luch, östlich Berlins an der Bahnlinie Richtung Seelow/Küstrin gelegen, gepachtet. Goldberg hatte diese Parzelle in malerischer Umgebung, die heute als „Naturpark Märkische Schweiz“ bekannt ist, als die Gründungszelle für die allmähliche Entwicklung der von ihm propagierten „Gärtnereien, Kleinvieh- und Geflügelzüchtereien und Landwirtschaften“ ausgesucht. Der Standort ist heute nach den akribischen Nachforschungen von Dr. Ottfried Schröck (Waldsieversdorf) präzise bestimmt worden. Die Gegend ist eigentlich wenig geeignet für die Verwirklichung seiner Pläne, da es sich um ein ziemlich feuchtes Moorgebiet handelt, das keinerlei Felsen oder spektakuläre Aussichten besitzt. Hinzu kommt, dass der Boden nicht besonders fruchtbar ist und es im Sommer von Mücken wimmelt. Aber es ist billig, es befindet sich in der Nähe der Bahnlinie und es sind andere anarchistische Siedlungen in unmittelbarer Nachbarschaft. Dies erlaubt Filareto, die Gründung einer neuen Lebens- und Produktionsweise zu experimentieren, ohne die Bindungen zum Leben und zu den Arbeitsstellen der Genossen in der Stadt völlig zu kappen. Er und andere Mitglieder der Kommune verbrachten dort den ganzen Sommer und sogar Perioden während der kalten Jahreszeit. Mit mindestens zwei Frauen, die Mitglieder der Kommune sind, hat Filareto Kavernido zwischen 1921 und 1927 mehrere Kinder: mit der bereits erwähnten Hannchen, (geb. am 13.4.1889 in Groß-Wanzleben) und einer aus Deutsch Krone, dem heutigen Walcz in Polen, stammenden Tochter aus jüdischem Hause (geb. am 22.4.1900), Amalia Michaelis, die er spätestens 1919 kennenlernt. Alle Kinder bekommen einen Ido-Namen.
In diesen Jahren nehmen die Aktivitäten zur Verbreitung des Wirkungskreises der Kommune in Berlin zu. Anfang Januar 1921 beteiligt er sich am Treffen der Anhänger der Siedlungs- und Landkommunenbewegung in Worpswede. Die Konferenz findet im Barkenhoff statt, dem Hause des bekannten Malers Heinrich Vogeler. Sie soll der Gründung einer gesamtdeutschen Organisation aller an der Entwicklung einer alternativen Lebensweise auf dem Lande interessierten Gruppen eine theoretische Grundlage geben. Filareto kann seine Vorschläge nicht durchsetzen, der Forscher Paul Robien erhält schliesslich den Auftrag, das Manifest zu verfassen. Daraufhin zieht sich der sicherlich sehr enttäuschte Filareto vom Treffen zurück.
Eine Berliner Boulevardzeitung der Ullstein-Gruppe veröffentlicht einige Jahre später – die Kommune war bereits nach Frankreich gezogen -, einen von Harry Wilde geschriebenen Artikel mit dem Titel „Freie Liebe hinter’m Bahndamm“. Es hat immer wieder Skandale wegen freier Körperkultur in der Öffentlichkeit gegeben. Wie bereits berichtet, arbeitet Filareto Kavernido nicht mehr als Arzt. Er hat durch die mit dem Paragraphen 218 zusammenhängenden Prozessen die Approbation bereits vor dem Krieg verloren.
Bei der Kommune halten sich zeitweilig Gäste aus befreundeten Gruppen aus dem Ausland. Dank der Memoiren von Joaquín Maurín, führendes Mitglied der mächtigen spanischen anarcho-syndicalistischen Gewerkschaft CNT, wissen wir vom kurzen und ereignisreichen Aufenthalt in der Kommune der „Kinder von Zarathustra„, wie er sie nennt, vom Anarchisten Jesús Ibáñez. Ibáñez war als delegierter seiner Gewerkschaft CNT auf dem Wege nach Moskau, um mit vier anderen Kollegen am Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale als Beobachter teilzunehmen. Er war den Kameraden vorausgereist, da er sich bereits auf der Flucht von der spanischen Justiz in Paris im Exil befand, und sollte in Berlin einige Tage auf sie warten. Als er erfuhr, dass es eine Kommune gab, in der unter anderem die freie Liebe praktiziert wurde, trennte er sich von seinen eher biederen deutschen Gastgebern und eilte, diese sagenhafte Gruppe aufzusuchen. Als Filareto nach einigen Tagen nach Berlin zurückkam, war er über die Anwesenheit des fröhlichen Fremden, der sich in der Mulackstrasse eingenistet hatte, nicht sonderlich erfreut. Es entbrannte eine heftige Diskussion, die in eine Schlägerei ausartete. Von den Nachbarn alarmiert, war die Polizei prompt zur Stelle und nahm die zwei Streithähne mit aufs Polizeirevier. Ibáñez wurde kurz darauf von seinen Genossen aus dem Kommisariat geholt und konnte mit den anderen vier spanischen Delegierten nach Moskau reisen, wo sie am Kongress teilnahmen, der zwischen Juni und Juli 1921 stattfand, und wo sie sogar von Lenin persönlich empfangen wurden. Filareto seinerseits konnte der langen Liste seiner Zusammenstösse mit Polizei und Obrigkeit einen neuen Zwischenfall hinzufügen.
Seit 1922 ist Dr. H. Goldberg als „Arzt und Philosoph“ in der Rosenthaler Str. 62 gemeldet. Noch einmal eine interessante Parallele zu seinem früheren Kommilitonen Alfred Döblin, der in einem Selbstporträt 1927 sich selbst als „Arzt und Dichter“ bezeichnete. Ab 1923 und mit Unterbrechungen bis 1927 wird seine Adresse als Arzt in der benachbarten Mulackstr. 21, 1. Stock, angegeben. Seine Mutter ist zwischen 1923 und 1925 in der Rosenthaler Str. 62 als „Goldberg, Elise, vw. Arzt“ eingetragen.
Zeugnis seines Bekanntheitsgrades geben verschiedene Memoiren, die jener Epoche Berlins gewidmet sind, wie z.B. „Theodor Plievier – Nullpunkt der Freiheit“ von Harry Wilde oder „Talisman Scheherezade“ von Max Fürst. Er beteiligt sich an Vorträgen und Debatten in Schulsälen und anderen Veranstaltungsräumen in Berlin. Harry Wilde berichtet z.B. über eine öffentliche Streitdebatte mit Theodor Plievier in der Aula der Schule der benachbarten Weinmeisterstrasse, die im Mai 1924 stattfindet. Filareto versucht mit Ausdauer, jedoch ohne Erfolg, die finanzielle Basis der Kommune abzusichern. Er pendelt zwischen der Landkommune im Roten Luch und der Kommune in der Mulackstr. 21 hin und her. Die Mitglieder hacken Kleinholz, machen Transporte und Putzarbeiten und beteiligen sich an den Veranstaltungen und Diskussionen. Der Wirkungskreis verengt sich durch die sich verhärtende politische Lage und die finanziellen Nöte. Nicht zuletzt sind unter anderem etliche Kinder zu unterhalten, die noch nichts zum Einkommen der Kommune beisteuern. In dieser Zeit gibt es mindestens eine weitere Kommune, die in engerem Kontakt zur Kaverno di Zarathustra steht, die Kommune „Freie Erde“ in Düsseldorf-Eller unter der Führung von Gerhard Schöndelen und seiner Frau Agnes (die große Agnes). Diese hatten dort offiziell von der Stadt Düsseldorf ein Haus bekommen. Goldberg besucht mehrere Male diese Kameraden in Düsseldorf. Auch Mitglieder der Berliner Gruppe halten sich zeitweise dort auf. Außerdem versucht die Kaverno eine ähnliche Gruppe in Wien aufzubauen. Dort hält sich Goldberg mehrere Monate auch, mindestens zwischen Oktober 1924 und Januar 1925, wo er von einer Zeitung im Zusammenhang mit der Aktivität der Kaverno in Wien interviewt wird. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon angefangen, aus Berlin bzw. aus Deutschland wegzuziehen (Der Tag, 4.1.1925, Wien). Wenig später tauch er in Frankreich auf. Im August 1925 schreibt FK von Paris aus an die Züricher Syndikalistin und frühere Siedlungssozialistin Margarethe Hardegger mit der Bitte um Aufnahme seiner Gruppe in ihre Kommune in der Schweiz. Er schreibt, daß er aus juristischen Gründen aus Deutschland fliehen mußte: außerdem erwähnt er in diesem Brief, dass er letzlich die Auswanderung der gesamten Gruppe nach Haiti anstrebt. Margarethe Hardegger, die die Idee der Kommune bereits lange aufgegeben hatte, schlug offensichtlich seine Bitte ab; sie war inzwischen von der Idee des Kommune-Lebens abgekehrt.
Filareto Kavernido veröffentlicht in Berlin auf Ido die Fabel „Die Raupe“, welche die platonischen Werte der Suche nach der Schönheit, der Kunst und dem Wissen preist. Die Kommune beschließt, nach Frankreich zu ziehen, wo Filareto seit dem vergangenen Jahr bereits Fuss zu fassen versucht. Konflikte mit der Justiz und der Ärztekammer wegen des Abtreibungsparagraphen und die chronischen finanziellen Probleme der Gruppe haben offensichtlich eine wichtige Rolle bei diesem Beschluß gespielt haben. Der Umzug findet im Frühling oder Frühsommer statt. Offenbar kommen auch einige Kameraden der Düsseldorfer Gruppe um Gerhard Schöndelen (Agnes und Elisabeth Burkhardt mit mehreren Kindern), die Filareto bereits im Jahre 1920 erwähnt. Zielort ist Tourrettes-sur-Loup bei Nizza. Vermutlich kennt Filareto dort jemanden – vielleicht aus Studentenjahren oder aus der Esperanto-Bewegung. Vielleicht ist es ein Kollege, der als Arzt arbeitet. Nizza war übrigens ein häufiges Sommerziel Nietzsches gewesen. Die Kommune haust recht primitiv in einer auf dem Berg in 800 Meter Höhe gebauten Scheune oder Hütte, umgeben von Steinmauern und Ställen in einer Art Farm. Bei klarer Sicht kann man die Insel Korsika von dort aus gut sehen. Die Farm heisst Les Villars und ist Teil des Hofs des Sanatoriums Les Courmettes. Einige der Mitglieder arbeiten hilfsweise in dem Sanatorium, offenbar auf Vorschlag des befreundeten Arztes, Dr. Gérard Monod. Andere wiederum betätigen sich als Landwirte und Viehzüchter auf dem vom Sanatorium gepachteten Gelände. Das Leben in Tourrettes spielt sich unter einfachsten Bedingungen ab, entsprechend bescheiden ist auch die Ernährung: Obst und Gemüse, wilde Kräuter, Kleinwild u. ä. Es ist anzunehmen, daß sich die Gruppe hier ungestört den Aktivitäten widmen kann, die ihren Ideen entsprachen: der Sonnenanbetung, dem Baden im eiskalten Wasser des Bachs oder der kleinen Seen, der disziplinierenden und primitiven Arbeitsweise auf dem Lande. Man kann sich leicht vorstellen, daß dabei die Kinder diejenigen sind, die am meisten leiden. Aus den Berichten der Zeitzeugen geht hervor, daß die ohnehin stark autoritäre und harte, ja grausame Erziehungspraxis Filaretos sich hier noch verschärft. Zu groß sind die Ideale, zu hoch die Ziele, als daß sie von den elementaren, „niedrigen“ Bedürfnissen der Kinder nach Nahrung, Kleidung und Spiel ständig gestört oder behindert werden dürften. Wenige Monate später bricht eine Krise in der Kommune aus. Nach dem Tod eines Säuglings aufgrund von mangelhafter Pflege und Ernährung beschließen mehrere Familien und Frauen, darunter die Mutter des gestorbenen Kindes, nach Deutschland zurückzukehren. Dieser Entschluß wird nicht ohne heftige Diskussionen, Vorwürfe und selbst Drohungen zur Verhinderung der Abreise akzeptiert. Unter den Heimkehrenden befindet sich auch Hannchen Gerbeit, geb. Gloger aus Berlin mit ihren fünf Kindern. Dagegen bleibt Filaretos zweite Lebensgefährtin mit ihren vier Kindern, darunter ein neugeborenes Baby, in der Kommune. Elisabeth Burkhardt, mit ihren 3-4 Kindern, bleibt auch in der Gruppe und macht auch den Umzug nach Korsika 1928 mit, bevor sie im Frühling 1929 nach Deutschland flieht. Schoendelens Gerhard und Agnes), E. Burkhardt und Alois und Anna Schenk und deren Kinder bleiben auch .
Während dieser Jahre hält sich die Kommune in Frankreich auf, zuerst in Tourrettes, danach versucht sie, sich auf Korsika niederzulassen Wir vermuten eine ständige starke Fluktuation der Mitglieder, so daß zum Schluss die Kerngruppe fast auf Familiengröße zurückgegangen war (Filareto, seine letzte Lebensgefährtin Mally, Karl Uhlik, Elisabeth Burkhardt, Alois und Anna Schenk, die Familie von Gerhard Schöndelen und wenige mehr, dazu mehrere Kinder). Wie es scheint, treiben die Kommunemitglieder eine Art Subsistenzlandwirtschaft auf dem vom Sanatorium gepachteten Land und leisten gelegentlich Hilfsarbeiten im Krankenhaus. Vermutlich setzt Filareto seine Versuche fort, neue Mitglieder aus Deutschland anzuziehen bzw. die alten „Flüchtigen“ zurückzugewinnen. Es gibt schöne, idealisierende Photographien der Kommune, die diesem Zweck gedient haben könnten. Er pflegt auch den Kontakt zu E. Armand, der in Paris-Orléans eine Zeitschrift, „L’en dehors“ herausgibt. Armand ist Anarcho-Kommunist, Anhänger der freien Liebe, Idoist und Befürworter der Gründung von Siedlungen und Kommunen. Filareto schreibt in dieser Zeitung Berichte und polemisiert mit anderen Gesinnungsgenossen. Im Jahre 1927 hat sich die Lage nicht verbessert, eher verschlechtert. Seien es die finanziellen Probleme, nach dem das Sanatorium ihre Pforten praktisch schliessen musste, die Streitigkeiten innerhalb der Gruppe oder die Probleme mit der Justiz und die drohende Ausweisung aus Frankreich, das Ergebnis ist, dass irgendwann gegen Ende 1927 / Anfang 1928 die Gruppe beschliesst, auf Korsika überzusetzen und in der Nähe von Ajaccio den Versuch fortzuführen. Wieso ausgerechnet Korsika, in der Nähe Ajaccios, wissen wir noch nicht. Die Kommune scheint dort mit dem Zugang von neuen Kameraden aus Deutschland stark angewachsen zu sein, damit nehmen aber auch die Probleme und Zwistigkeiten unter den Mitgliedern zu. Das gepachtete Land erweist sich als ungeeignet und ungesund, viele Mitglieder – Filareto spricht von über 20 – erkranken an Paludismus. Hier muss Filareto wegen Erregung öffentlichen Skandals seit Oktober 1928 sechs Monate im Gefängnis verbringen. Die Kommune löst sich praktisch auf. Übrig bleiben 3 Erwachsene und 4 Kinder, die den Entschluss fassen, eine lange Reise zu unternehmen, um ihre Utopie in einer günstigeren Umgebung fortzusetzen. Der alte Plan, nach Haiti zu gehen, wird mit dem letzten Geld verwirklicht. Die Restgruppe besteht aus Filareto, seiner Lebensgefährtin mit den vier Kindern und Carl Uhlik. Unter den Kameraden, die auf Korsika zurückbleiben, befinden sich Gerhard Schoendelen, die Grosse Agnes und die Kinder.
Anfang Juli setzen sie zu einer 3-wöchigen Überfahrt im Frachtschiff von Bordeaux nach Port-au-Prince, Haiti. Dort angekommen, werden sie sofort ohne Angabe von Gründen ausgewiesen, und reisen über Santo Domingo in den Norden des Landes, in die Cibao-Region bei Moca. Die Gruppe läßt sich in der Gegend des Nördlichen Gebirges bei Jamao (unweit von Puerto Plata) im Rahmen einer staatlichen Agrarkolonie mit zumeist europäischen Familien nieder. Es handelte sich um eine Initiative der dominikanischen Regierung, zum Einen, um die rückständigen Landregionen zu entwickeln, zum Anderen, um weiße Siedler ins Land zu holen, um den Anteil der farbigen Bevölkerung zu verringern. Das Programm besteht darin, kleine Parzellen im urbar gemachten Bergwald langfristig an Familien zu verpachten. Als Starthilfe waren die Mithilfe bei der Rodung des zugesprochenen Stück Waldes und beim Bau einer einfachen Holzhütte mit Palmblätterbedachung sowie die Lieferung von Saatgut, Werkzeugen und Arbeitsgeräten, Arbeits- und Kleintieren (Maultiere oder Pferde, Ochsen, Geflügel, Kaninchen u. ä.) und einem Vorrat an Lebensmitteln die Regel. Offenbar widmet sich Filareto eher der medizinischen Versorgung der Lokalbevölkerung, hauptsächlich wohl der Geburtshilfe und der Behandlung der unter der Landbevölkerung sehr verbreiteten Geschlechts- und anderen endemischen Krankheiten; selbst an Zahnextraktionen wagt er sich mit primitiven Werkzeugen und prekären Betäubungsmethoden. Auf Grund des Medikamentenmangels wendet er zunehmend natürliche Heilmethoden an. Es liegt auf der Hand, daß er der vereinbarten Tätigkeit als Kleinbauer angesichts dieser Aktivitäten nur wenig Zeit widmen kann. Die einzelnen, von den Neusiedlern bewohnten Parzellen sind weit voneinander entfernt, die Wege sind lang und schwierig, meistens nur zu Pferd zu bewätigen, so daß man sich eine räumliche Zersplitterung der Kommune vorstellen muß, die es ihr nur abends oder vielleicht sogar nur am Sonntag erlaubt, zu gemeinsamen Aktivitäten, Diskussionen oder zum Musikmachen zusammenzukommen. Das so sehnsüchtig angestrebte kommunistische Leben verläuft nun hier in der Dominikanischen Republik auf einem niedrigeren Niveau als in Frankreich oder gar in Berlin. Der Kontakt mit den Freunden und Gesinnungsgenossen in Deutschland und in anderen Ländern ist sicherlich nicht einfach aufrechtzuerhalten, aber es wird korrespondiert und es werden offensichtlich auch Bilder verschickt, um die schönen Seiten dieses Inselparadieses zu zeigen und die in Europa Zurückgebliebenen für die Überfahrt zu begeistern. Aber von Kommuneleben kann nicht die Rede sein. Das System und seine Aufpasser – Großgrundbesitzer, denen das Land gehört, welches der Staat weiterverpachtet, offiziell bestellte Administratoren der Siedlung (oder Kolonie), Kirche, Gemeinde- und Bezirksbehörden – lassen es nicht zu, daß die Struktur von Familieneinheiten als Basis einer Kleinbauernwirtschaft verändert wird, von einer revolutionären Infragestellung ganz zu schweigen. Außerdem ist die Landzuteilung, die Ausstattung mit Mitteln und die Möglichkeit zur Vermarktung der Produkte so knapp bemessen, daß sie kaum einen individuellen Fortschritt etwa durch Austausch und Akkumulation erlaubt. Die Lage muß sich also als ziemlich bedrohlich für das Weiterbestehen der Kommune dargestellt haben: physische, gesetzliche und finanzielle Grenzen drohen die utopischen Pläne des Filareto Kavernido zu ersticken. Er ist kein Bauer. Er ist nicht das einfache Oberhaupt einer Kleinfamilie. Er ist es nicht gewohnt, in derartiger Isolation zu leben. Die ärztliche Tätigkeit, die er unentgeltlich leistet, die jedoch von der dankbaren lokalen Bevölkerung mit freiwilligen Gegenleistungen in Form von Arbeit oder kleinen Gaben wie lebenden Tieren oder Früchten honoriert wird, hat ihm sicherlich Befriedigung und die für ihn so nötige Beachtung und Ruhm gebracht. Noch heute erinnern sich die Einwohner dieser Gegend an seine Person, die mit ihren langen Haaren und dem Bart, den leuchtenden Augen, mit dem Aussehen eines Propheten oder gar des Jesu Christi Aufsehen erregte, wenn er hoch zu Pferde durch den Wald ritt, um seine Patienten zu versorgen. Er ist dabei, auf einer Anhöhe, die er hat roden und herrichten lassen, ein Krankenhaus zu bauen. Es soll relativ groß werden, vielleicht 5 Meter breit und 7 Meter lang, gut isoliert sein und einzig und allein aus Mahagoniholz bestehen. Es wird völlig ohne Nägel gebaut, alle Verstrebungen und Nieten sind aus Holz. Wir nehmen an, daß die Proportionen harmonisch und genau bemessen waren. Das ist sein letztes Projekt, bei welchem er sich seinem Ziel einer Gemeinschaft der freien Menschen unter den gegebenen widrigen Umständen am nächsten fühlen kann. Das Holz liegt bereit, aber der Bau wird nicht mehr beendet werden können. Sein Ruf, der sich schnell verbreitet hat, beunruhigt die lokalen Behörden, er stellt eine unbequeme, ja gefährliche Konkurrenz für die Gutsherren, die Ärzte oder für die Priester dar. Außerdem erwartet das staatlich geleitete Programm der Kolonisierung von den Siedlern etwas anderes als diesen aufwieglerischen, zersetzenden Einfluß. Die Siedler sollen höhere Werte verbreiten, sie sollen das Vorbild der europäischen Kultur aufzeigen und technischen Fortschritt einführen. Ihre Aufgabe wird darin gesehen, zur technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und zur Konsolidierung des bestehenden Herrschaftssystems beizutragen. Die Propagierung eines naturverbundenen Lebens, der freien Liebe und einer Sexualität ohne Barrieren, die Ablehnung der Stadt, der bürgerlichen Kultur, der Schulmedizin und selbst der Land- und Arbeitsgesetze, die internationalen Kontakte und häufigen Besuche von Ausländern, die (höchstwahrscheinlich zensierte) umfangreiche Korrespondenz, die Filareto mit dem Ausland unterhält – all das sind Gründe dafür, dieses unliebsame Element aus der Kolonie zu entfernen. Filareto, entmutigt und enttäuscht von den vielen Entbehrungen und Zwängen, der fühlbaren Abkehr und abnehmenden Begeisterung mancher seiner Gesinnungsgenossen, deprimiert ob der wenig ermutigenden Aussichten der Kommune, sicherlich auch pessimistisch im Hinblick auf die negativen Nachrichten, die ihn aus Deutschland über den heraufziehenden Nazionalsozialismus erreichen, handelt getreu dem nietzscheanischen Motto: „Lebe gefährlich!“. Er benutzt die Reisen in die Provinzhaupstadt Moca, um seine Ideen in interessierten Zirkeln zu propagieren. Er bringt ihnen hierzu Pamphlete und Aufrufe, die seine Lebensgefährtin mit einer kleinen Schreibmaschine auf sein Diktat hin in der Hütte von Arroyo Frio tippt und mit Kohlepapier vervielfältigt. Es heißt sogar, er habe Flugblätter und Plakate in Moca drucken lassen. Er fordert das Schicksal weiter heraus und agiert noch einmal mit bewußter Tollkühnheit: im Rahmen der Bildungsveranstaltungen des Programms der Agrarkolonie hält er in der Provinzhauptstadt einen öffentlichen Vortrag, der mit dem eigentlichen, ihm zugewiesenen Thema offenbar nichts zu tun hat. Er kritisiert die „Cartilla“, die neue Satzung zur Erziehung der Bürger in Staatskunde, in welcher die Rechte der Bevölkerung beschnitten und ihre Pflichten dem Staat gegenüber vergrößert werden. Seine Worte werden als eine Herausforderung und Mißachtung der herrschenden Verhältnisse aufgenommen und der Machtapparat setzt sich in Bewegung. Bevor gehandelt werden kann, müssen vermutlich, da es sich um einen europäischen Siedler handelt, die Spitzen der Diktatur, vielleicht sogar Trujillo selbst, informiert bzw. um ihr Einverständnis gebeten werden. Die Tatsache, daß es sich um einen Deutschen handelt, kann Filareto 1933 bereits keinen Schutz mehr bieten, zumal er Jude ist. Am 18. April wird ein Bericht über den zersetzenden, „infektiösen“ Charakter des Dr. Goldberg und seiner „kommunistischen Gruppe“ an den Agrarminister verfaßt. Der Autor, ein hoher Mitarbeiter dieses Ministeriums, ist ein bekannter Intellektueller und Dichter, der in den zwanziger Jahren ausgerechnet als „bohémien“ in Frankreich gelebt hat. Er gilt als einer der größten dominikanischen symbolistischen Dichter und hatte – welche Ironie des Schicksals – der künstlerischen Avantgarde angehört. Eben dieser Dichter und jetzige Ministeriumsbeamte empfiehlt nun in seinem Bericht, Dr. Goldberg des Landes zu verweisen und seine ganze Gruppe sofort aufzulösen. Vermutlich ist der mächtigste örtliche Großgrundbesitzer Sohn eines gleichnamigen bekannten Politikermörders vom Ende des 19. Jahrhunderts und wichtigste Persönlichkeit der Gegend, derjenige, der die Initiative ergreift. Es gibt aber auch noch andere einflußreiche Familien, Grundbesitzer, Freiberufler und Ärzte aus Moca, welche ihre Interessen von Filaretos Tätigkeit als fliegender „Armenarzt“ beeinträchtigt sehen; jedenfalls fällt die Entscheidung für die radikalste Lösung: weder Einkerkerung noch Verbannung oder Ausweisung, sondern Mord. Am Abend des 26. Mai 1933 erscheinen zwei bewaffnete und vermummte Männer (oder auch drei, bei den nachfolgenden Einzelheiten gibt es verständlicherweise mehr als eine Version) vor der Tür der armseligen Hütte, in welcher Filareto mit seiner Lebensgefährtin und den Kindern wohnt. Sie treten mit gezogenen Pistolen ein und verlangen barsch, er solle sie in die Stadt begleiten, um eine Behördenangelegenheit zu erledigen. Filareto macht Anstalten, sich vorher umzuziehen, er trägt noch die schmutzige Kleidung, denn er ist eben von der Feldarbeit zurückgekehrt und will sich gerade zum Abendessen fertigmachen, aber die Männer bedeuten ihm, es sei nicht nötig. Er fügt sich, vielleicht ahnend, was ihn erwartet. Die Männer und er verlassen mit ihm die Hütte und verschwinden in der Dunkelheit auf dem Pfad Richtung Moca. Während die Kinder dabei sind, das Pferd für Filareto fertigzumachen – Moca ist etwa 15 km auf bergigen Wegen entfernt – ertönt ein oder mehrere Schüsse, darüber gibt es abweichende Berichte. Keine 100 Meter von der Hütte entfernt, neben dem kleinen Fluß von Arroyo Frío und einige Meter links vom Pfad enfernt, ist Filareto niedergestreckt worden. Er wird erst am frühen Morgen aufgefunden. Nach Aussagen von Augenzeugen stirbt er erst zu diesem Zeitpunkt, obwohl hier die Berichte natürlich unterschiedlich sind. Der Leichnam wird sofort nach Moca gebracht und dort begraben. Es wird eine Untersuchung über die Umstände des Todes durchgeführt, die schnell ohne Ergebnis abgeschlossen wird. Jahre später – 1938 – werden die Überreste von der Familie auf einen heute noch existierenden Bergfriedhof in der Gegend bei Las Caobas, unweit von Palo Alto und von Arroyo Frío, überführt und neben dem Vater und Bruder seiner Lebensgefährtin, die 1935 aus Europa gekommen waren, begraben. Der 17jährige Sohn markiert das Grab mit einem Holzkreuz. Das Grab existiert aber nicht mehr. Nach dem Mord verbrennt seine Lebensgefährtin Archive, Dokumente und Korrespondenz. Die Mitglieder der Kommune, verlassen nach und nach im Laufe der nächsten Jahre die Gegend. Die Nachricht der Ermordung des Dr. Goldberg alias Filareto Kavernido erreicht mit einiger Verzögerung die Freunde und Angehörigen in Europa. Die französische Zeitschrift „L’en dehors“, für die Filareto unzählige Artikel geschrieben hat, berichtet in September 1933 über die Ermordung. Offensichtlich hat sie die Nachricht über einen Brief von Mally erreicht. Die in der Schweiz erscheinende Ido-Zeitschrift „Progreso“ schreibt über den Tod des Gesinnungsgenossen etwas später in der Nr. Februar-April 1934, und hebt hervor, daß er ein weiser Mensch und glühender Anhänger der Ido-Bewegung gewesen sei und sein Leben den anarchistischen Idealen gewidmet habe. Auch sei er jemand gewesen, der für seine Ideen nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu leiden wußte. So findet Filareto Kavernido einen tragischen Heldentod. Wer weiß, ob er sich nicht nach so vielen Niederlagen und Rückschlägen auf dem mühsamen Weg zu seiner immer weiter entfernten Utopie vielleicht gerade ein solches Ende gewünscht hat.