Kavernidos Kulturphilosophie

Eine Erörterung von Prof. Johannes Rohbeck, Dresden

Filareto hat die Utopie einer Kommune gelebt. Folgt man seinen „programmatischen Grundlinien“, gab es in der „kommunistischen Gruppe“ keinen Besitz und kein Privateigentum, weder an Dingen noch an Personen. Das bedeutete die gemeinschaftliche Nutzung der Wohnung sowie die gleiche Verteilung von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern. Ebenso war damit die gemeinsame Verfügung über Lebenspartner und Kinder gemeint. Insgesamt sollte die Lebensweise asketisch sein. Das erforderte schon die materielle Not, diente aber auch dazu, Geld zu sparen, um die anfängliche „Konsumptionsgemeinschaft“ zu einer „Produktionsgemeinschaft“ zu erweitern, die in der Landwirtschaft und im Handwerk bis zur Kleinindustrie angesiedelt werden sollte. Das Ziel bestand in der Vermehrung derartiger „Gruppen“, die sich zu einer „anationalen“ Organisation zusammenschließen sollten.

Wie wurde diese Utopie begründet? Woher nahm der Urheber dieses Projekts die Zuversicht, das richtige Ziel vor Augen zu haben? Wie rechtfertigte er gegenüber seinen Gruppenmitgliedern dieses Ziel? Und mit welchen Argumenten versuchte er, andere Menschen zu überzeugen, sich dieser Gruppe anzuschließen oder gar neue Gruppen zu bilden? Aus den historischen Quellen wissen wir, dass dieses Leben mühsam und entbehrungsreich gewesen ist. Die faktisch vorhandene Gruppe konnte nicht so attraktiv gewesen sein, dass ihr die Mitglieder zuflogen. Weil die Wirklichkeit offenbar nicht für sich sprach, bestand offenbar ein hoher Legitimationsdruck. Es bedurfte daher einer tiefer gehenden Rechtfertigung, die Filareto in der Philosophie suchte.

Im Programm finden sich dazu erste Hinweise. Es beginnt mit dem mythischen Bild der „Höhle Zarathustras“ und mit dem Ziel eines „höheren Menschen“, was auf Friedrich Nietzsche anspielt. Dabei stellt sich auch die Assoziation zum „Höhlengleichnis“ von Platon ein. Am Ende werden die Begriffe „Vernunft“ und „Liebe“ beschworen, die in dieser Allgemeinheit einen ebenso philosophischen Klang haben.

Zur Erläuterung hat Filareto 1920 seinem Programm drei Mitteilungsblätter hinzugefügt, in denen der Bezug zur Philosophie konkretisiert wird. Im zweiten Heft rückt er den Begriff der Liebe ins Zentrum, im dritten Heft erörtert er die Rolle der Vernunft in der Gesellschaft. Bereits aus dem Titel des ersten Heftes wird klar, dass er eine kulturphilosophische Legitimierung des Kommunismus im Sinn hat.
Zum ersten Heft Kulturphilosophische Betrachtungen

Zu Beginn verdeutlicht Filareto, welche Art Kulturphilosophie er zu Grunde legen will: „Die Kulturentwicklung schreitet fort.“ Es geht also um die Kultur in ihrer historischen Entwicklung, der sogar ein Fortschreiten bescheinigt wird. Wenn dieses Thema auf philosophische Weise behandelt wird, bewegt sich die Betrachtung im Rahmen einer Philosophie der Geschichte. Um das Motiv zu erschließen, das Filareto bewogen haben könnte, eine geschichtsphilosophische Begründung zu versuchen, vergegenwärtigen wir uns noch einmal die extrem widrigen Bedingungen, unter denen die „kommunistische Gruppe“ entstanden ist. Wenn die erfahrbare Gegenwart derart entmutigend ist, liegt es nahe, alle Hoffnungen auf die Zukunft zu setzen, in der das bessere Leben erwartet wird.

Tatsächlich gehört es zum Topos der Geschichtsphilosophie, für den künftigen „Fortschritt“ von den gegenwärtig lebenden Menschen Opfer abzuverlangen. Ein ebensolcher Topos ist die Berufung auf eine übermenschliche Instanz, von denen die Individuen getrieben werden, ohne ihren Sinn einzusehen. Auch Filareto betont ausdrücklich, dass „die Kulturentwicklung der Menschheit nicht das bewusste Werk menschlicher Vernunft ist“, deren „Kräfte“ die Menschen „nicht kennen, aber ahnen, fühlen, genialisch erfassen“. Polemisch zugespitzt heißt das: Wenn diese Einsicht den gewöhnlichen Verstand übersteigt, bedarf es eines genialen Führers, der den Weg der Geschichte weist. Viele Zeugnisse sprechen dafür, dass sich Filareto als ein solches Genie gefühlt hat und tatsächlich bei seinen Zeitgenossen diesen Eindruck zu erwecken vermochte. Im Grunde wird damit die im Programm erwähnte „Vernunft des Einzelnen“ wieder zurückgenommen. Heute hat eine solche Geschichtserzählung zur Legitimierung der Gegenwart ihren Kredit verspielt.

Die Idee des Fortschritts gehörte auch zum Marxismus dieser Epoche, von dem unser Autor sicherlich beeinflusst war. Doch Filareto schließt sich nicht etwa der marxistischen Geschichtsschreibung an, obwohl er sich „kommunistisch“ nennt und von „Fortschreiten“ spricht. Im Gegenteil, er deutet die bisherige Geschichte Europas ganz radikal als eine Verfallsgeschichte.

Die Grundthese besteht darin, dass die wissenschaftliche und technische „Zivilisation“ zwar fortgeschritten ist, dass aber demgegenüber die „Kultur“ als Ausbildung von Kunst und Moral zurückgeblieben sei. Dieser verfehlte Weg ist zurückzugehen, um die Geschichte sozusagen wieder neu anfangen zu lassen. Der Wendepunkt liegt in der griechischen Antike um 450 v. Chr. zur Zeit des „ersten“ Philosophen Sokrates, der gleichsam die falsche Weiche zugunsten des „Wissens“ auf Kosten der „Kunst“ gestellt habe. Damit offenbart sich auch die tiefste Ursache, die im Widerspruch zwischen der Wahrheitssuche des Menschen und der Unerreichbarkeit dieses Ziels besteht. Diesen Irrweg der Erkenntnis sind die Römer, Christen und Philosophen bis Kant und Schopenhauer so lange gegangen, bis Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“ an die Kunst, insbesondere an die Musik, erinnert hat. An diese Offenbarung gilt es in der Gegenwart anzuknüpfen, um eine neue Kultur im Geiste Nietzsches (und Goethes) wieder aufzurichten. Diesem Ziel soll auch die eigene Kommune dienen.

Mit Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik aus dem Jahr 1872 hat Filareto die wesentliche Quelle seiner kulturgeschichtlichen Rechtfertigung genannt. Wesentlich für Nietzsche war die Unterscheidung zwischen der „appolinischen“ Kunst des Bildners und der „dionysischen“ Kunst der Musik; das Dionysische ebnet alle sozialen Differenzen und Hierarchien ein und soll den auf Sklaventum gründenden appolinischen Staat auflösen. Mit Sokrates siegt der theoretische Mensch über diese tragische Weltanschauung.

Der Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur wird Nietzsche zwar häufig nachgesagt, blieb bei ihm aber nur angedeutet. Auf die Spitze getrieben hat diese Polarisierung erst Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes, einem Buch, das 1918, also zwei Jahre vor Filaretos Heften erschienen ist. Darin hatte Spengler ein zyklisches Geschichtsbild entworfen, nach dem es bisher acht Hochkulturen gegeben hat, die das Schicksal teilen, dass sie irgendwann einmal ins Stadium der Zivilisation getreten sind und damit den Kulturtod erlitten haben – ein Schicksal, von dem angeblich nun auch das Abendland und insbesondere Deutschland bedroht ist. Bei Spengler schwingen dabei auch nationalistische und rassistische Untertöne mit, wenn er gegenüber der „faustischen“ Kultur Deutschlands die Zivilisation Frankreichs und anderer europäischer und außereuropäischer Länder abwertet. Etwa zur gleichen Zeit hat der jüdische Philosoph Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen eine Kulturphilosophie entworfen, welche die Trennung zwischen Kultur und Zivilisation überwindet zugunsten eines themenübergreifenden und gesamteuropäischen Kulturbegriffs.

Die nationalistische Tendenz war natürlich mit Filaretos Begeisterung für Esperanto und mit seiner Kritik am Nationalen überhaupt nicht vereinbar. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit ließ er sich von Spengler beeinflussen, ohne ihn namentlich zu nennen. Trotz aller Problematik, die ihm vielleicht auch nicht bewusst war, übernahm er dessen Konzept und projizierte es in Nietzsche. Dafür spricht zunächst der Gebrauch der Begriffe „Kultur und Zivilisation“, die sogar den Titel des zweiten Heftes bilden. Ebenso orientiert sich die konkrete Darstellung des Geschichtsverlaufs an Spengler. Wie er bezeichnet Filareto die Deutschen als „degenerierende Zivilisationsmenschen“, die nur durch den Geist von Goethes „Faust“ gerettet werden können. Schließlich wirft er der zeitgenössischen Zivilisation einen Verlust an Kultur vor, um daraus die Forderung nach einer neuen Kultur abzuleiten. Auf diese Weise lässt er die Geschichtsphilosophie Spenglers mit der Ästhetik von Nietzsche verschmelzen. Letztlich läuft der Diskurs auf eine ästhetische Rechtfertigung der Kommune hinaus.
Zum zweiten Heft Kultur und Zivilisation

Mit dem Titel wird das Thema des ersten Heftes fortgeschrieben, jedoch auf völlig andere Weise bearbeitet. An die Stelle des vorangegangenen geschichtsphilosophischen Diskurses tritt nun eine anthropologische Begründung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation. Dazu beruft sich Filareto explizit auf Ernst Häckel. Dieser war ursprünglich Zoologe und hat mit seinen populärwissenschaftlichen Büchern Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) und Die Welträtsel (1899) den Darwinismus in Deutschland maßgeblich verbreitet und dabei zugleich eine „spiritualistische“ Weltsicht vertreten. Es ist nachvollziehbar, dass sich der ehemalige Arzt Filareto von dieser Mischung aus Naturwissenschaft und Idealismus angesprochen fühlte. Außerdem bot sich dadurch die Möglichkeit an, die Geschichtsphilosophie mit dem Darwinismus zu verbinden. Diese Position war bereits im 19. Jahrhundert weit verbreitet, wie zum Beispiel Thomas Robert Malthus und Karl Marx demonstriert haben, so dass hier auch Anschlussmöglichkeiten an den Marxismus bestanden.

Doch im Unterschied zu Marx überträgt Filareto an dieser Stelle noch nicht die Evolutionstheorie auf die Theorie der Gesellschaft, sondern bemüht die Anthropologie, um daraus den Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation abzuleiten. Der unterstellte Grundwiderspruch der Geschichte und der gegenwärtigen Welt wird in die Natur des Menschen verlegt; und weil der Mensch Teil der Natur ist, wird die Menschennatur wiederum in einer „Allkraft“ des natürlichen Lebens begründet, die im „ewigen Wechsel“ von zwei „Kraftformen“ erscheint, im „Fortpflanzungstrieb“ und im „Selbsterhaltungstrieb“. Der letzte Grund wird also in der Naturphilosophie gesucht. Filareto nimmt offenbar keinen Anstoß daran, dass er mit Hilfe unveränderlicher Kräfte die Veränderungen in der Geschichte begründen will. Wichtig scheint ihm die naturwissenschaftliche Fundierung seiner Geschichtstheorie zu sein, die man aus heutiger Sicht als naturalistisch bezeichnen kann. Die Plausibilität bestand offenbar darin, dass er eine biologische und damit in seinem Sinne „medizinische“ Erklärung für die ganze Welt gefunden zu haben glaubte.

Der „Selbsterhaltungstrieb“ führt nach Filareto zur modernen Zivilisation, zu Wissenschaft und Technik, und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Letztlich bleibt dabei der Egoismus vorherrschend, weil die Sozialisierung nur Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung ist. Auch die Moral bis hin zu Altruismus und Nächstenliebe entspringt nur einem aufgeklärten Egoismus, der letztlich zum Untergang der Gesellschaft führt. Demgegenüber führt der „Fortpflanzungstrieb“ zur Kultur. Denn dieser Trieb ist der Ursprung der Liebe, deren Ausdruck die Kunst ist. Die Kunst bildet das wahre „ethische Band“ der Gesellschaft, sie ist der „wahre Kulturzustand“ und führt zum „wahren Sozialismus“.

Damit ist auch der Begriff der Liebe, der im vorgestellten Programm erwähnt wird, etwas konkreter geworden. Vermutlich bezieht er sich auf die „freie Liebe“ in der Kommune. Doch das erinnert mehr an Goethe und Schiller als an Nietzsche, der den „Willen zur Macht“ und damit den Kampf zum Prinzip gemacht hatte. So ist aus den unterschiedlichen Vorlagen ein originelles Patchwork entstanden: aus der Biologie von Haeckel eine Anthropologie mit Grundtrieben, daraus mit der deutschen Klassik die Liebe als ethisches Prinzip, mit Nietzsche die Übertragung in die dionysische Kunst, die mit Spengler zur geschichtsphilosophisch aufgeladenen Kultur gewendet wird. Die Grundstimmung, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr verbreitet war, besteht aus einem Überdruss an der technisch-ökonomischen Zivilisation, aus der Filareto ja selbst ausgebrochen ist.
Zum dritten Heft Kulturkampf statt Klassenkampf

Inzwischen scheint Filareto von seinen schöngeistigen Spekulationen etwas Abstand zu nehmen, um sich praktisch-politischen Themen zu widmen. Er kritisiert die „Funktionäre“ der sozialistischen Arbeiterbewegung und beabsichtigt demgegenüber eine „richtige Interpretation des historischen Materialismus“. Im Untertitel steht die These, die er widerlegen möchte: „Der Mensch ist das Produkt seiner Verhältnisse“.

Wiederum glaubt Filareto auf die „Entwicklung der Menschheit“ zurückgreifen zu müssen, aber jetzt erwähnt er explizit Charles Darwin und dessen Evolutionstheorie, die er durch Ernst Häckel kennen gelernt hat und die zugleich in einer größeren Nähe zu Karl Marx steht. Ausgesprochen marxistisch klingt die daran anschließende Skizze des historischen Verlaufs von Gesellschaften mit Hilfe von Begriffen wie „Gesellschaftsorganisationen“ und „Produktionsmittel“. Ob Filareto selbst einige Schriften von Marx gelesen hat oder ob er aus politischen Gründen die Namensnennung vermeiden wollte, ist nicht erkennbar. In jedem Fall handelt es sich um ein Vokabular, das damals in der Arbeiterbewegung im Umlauf war.

Theoretisch interessant ist die Kritik an der zitierten These. Das Argument lautet, dass keine Veränderungen in den Gesellschaften möglich wären, wenn „tatsächlich der Mensch das Resultat äußerer Zustände der Umgebung“ wäre. Aber in Wirklichkeit entsteht der Wandel in der Geschichte durch den „Wunsch“ nach der Befriedigung neuer Bedürfnisse und durch entsprechende technische „Erfindungen“. Die Grundlage solcher Innovationen sieht Filareto in der „Vernunft“. Sie ist ein natürliches „Organ“, das sich in der Evolution der Menschen herausgebildet hat, zunächst in der Technik wirksam wird und schließlich in der Entwicklung von Gesellschaften eine entscheidende Rolle spielt. Mit ihrer Hilfe erfassen die Menschen „im Geiste“ und in gedanklicher „Vorerkenntnis“ neue Ziele. Folglich ist es die Vernunft, welche „die Gestaltung unserer äußeren Lebensumstände beeinflussen“ kann.

Das Wort „beeinflussen“ ist so vorsichtig gewählt, dass eigentlich kein Marxist daran Anstoß nehmen würde. Ob diese Formulierung den Satz „Der Materialismus ist falsch“ begründen kann, sei also dahingestellt. Sicher ist nur, dass sich Filareto eher vom Spiritualismus eines Häckel angezogen fühlte. Deshalb besteht der Sinn dieser Passage eher in einer politischen Absicht. Denn innerhalb des Marxismus gab es tatsächlich eine Debatte über das Problem, dass eine völlige materielle Determinierung der Menschen eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausschließen würde. Historischer Materialismus und Revolutionstheorie schienen sich gegenseitig auszuschließen. Diese Grundsatzdiskussion, an der sich Marx selbst beteiligte, hatte nicht zuletzt auch politische Auswirkungen bei der Frage, ob die Arbeiterklasse eine spontane Revolte anfachen oder auf den Zusammenbruch des Kapitalismus warten sollte. Es leuchtet ein, dass sich Filareto auf die Seite der Spontaneisten stellte. So ist offenbar auch der Begriff der Vernunft im anfänglichen Programm zu verstehen.

Doch widerspricht Filareto damit seiner eigenen Geschichtsphilosophie aus dem ersten Heft, in dem er dargelegt hat, dass die menschliche Vernunft gerade nicht in der Lage sei, die Kulturentwicklung vorauszusehen oder gar zu planen. Dieser Widerspruch lässt sich nur so auflösen, dass den Menschen bisher in der Vergangenheit die Geschichte verschlossen war, während die Vernunft in der Gegenwart zu Richtung weisenden Erkenntnissen fähig sei. Diese Aufgabe hat sich Filareto ja selbst gestellt, er verteidigt sich damit gegen die organisierte Arbeiterbewegung.

Gegen den etablierten Marxismus richtet sich auch die Kritik am Begriff des „Klassenkampfes“ und der Klasse überhaupt. Filareto wendet ein, dass diese Klassen allein ökonomisch bestimmt sind, während sich bei den Mitgliedern einer Klasse kulturelle Unterschiede finden ließen. Auch diese recht triviale Beobachtung, die an der Klassentheorie vorbeizielt, würde kein Marxist bestreiten. Schon Marx und Engels waren sich darüber im Klaren, dass sie andere kulturelle Ursprünge hatten als die Arbeiter. Weil eine solche Argumentation nicht überzeugt, sind die praktischen Schlussfolgerungen wichtiger. Mit dem von ihm propagierten „Kulturkampf“ beabsichtigte Filareto, seine Gruppe für Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten offen halten, zumal er ja selbst aus bürgerlichen Verhältnissen stammte. Außerdem war ihm die ästhetische Kultur wichtiger als der soziale Fortschritt. Schließlich wollte er sich mit den gewerkschaftlichen und politischen Funktionären versöhnen, nachdem es vermutlich Debatten über die angemessene Strategie gegeben hat. Wenn er in einem Gleichnis von den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der revolutionären Bewegung spricht, plädiert er für einen Pluralismus, der ihm persönlich den nötigen Freiraum verschaffen sollte.

Dabei schreibt sich Filareto einen nicht gerade unbescheidenen Platz zu, indem er seine Kommune an der Spitze zu gehen glaubt und den übrigen sozialistischen Organisationen die Nachfolge gönnerhaft zubilligt. Die Gewissheit, überhaupt auf dem richtigen Weg zu sein, schöpft er wieder aus der „natürlichen Entwicklung“, die wie von selbst zu einem „neuen Kulturzustand“ führen werde. Damit schließt sich der Kreis zur naturalistischen Geschichtsphilosophie der beiden ersten Hefte.

Doch am Ende dieses Heftes verfügt Filareto über so viel Selbstironie und Witz, dass er von sich selbst behauptet, er „probiere“ nur etwas Neues aus und sei in diesem Sinn ein „Probist“. So ein Mensch kann sich freilich auch irren.

Januar 2007

Kulturkampf statt Klassenkampf

Heft 3 der Mitteilungsblätter aus Zarathustras Höhle
Einführung von Santiago Tovar

Dieses Heft dient hauptsächlich der Abgrenzung gegenüber den traditionellen sozialen Organisationen. Hier konfrontiert F.K. seine Weltanschauung mit den in der Bevölkerung mehrheitlich verbreiteten sozialistischen Theorien. Ziel ist, eine als materialistisch begründete Anthropologie gegen die gängige klassenanalytische Theorie der Gesellschaft auf die Beine zu stellen. Dafür beginnt er mit dem gemeinsamen Gedankengut und verwendet zunächst den von allen akzeptierten Satz: „Der Mensch ist das Produkt seiner Verhältnisse“ gegen die „Berufskämpfer“, also die Funktionäre der Arbeiterparteien und Gewerkschaften selbst. Es ist klar, daß die Gefolgschaft für seine Kommune aus den Kreisen der Unzufriedenen mit diesen Massenorganisationen kommen sollte. Deren Funktionäre seien also von den Entwicklungen überholt, psychologisch unfähig, sich weiterzubilden und die Veränderungen in der Gesellschaft und den neuen Bedürfnissen zu erkennen. Schuld an ihrer Unfähigkeit, die neuen Verhältnisse zu erkennen wäre die zentralisierte Struktur der Massenorganisationen. Um die Entwicklungsstadien der Gesellschaft in der Geschichte zu erklären greift er zur Evolutionstheorie Darwins und den Anpassungsverwandlungen der Tierwelt zurück. Und der Mensch ist „nur als eine besondere Tierart, und nicht als irgend etwas anderes zu betrachten“. Die Besonderheit liegt im Besitz der „Vernunft“, etwas „körperliches“ welche beim Menschen, im Unterschied zu den Tieren, das Bilden neuer Organe für die einzelnen Bedürfnisse ersetzt. Hier kommt Dr. Goldberg statt Filareto zu Wort und kann sicherlich den Zuhörer mehr als den Leser mit einigen Kommentaren zu den Funktionen des Gehirns und der Sinnesorgane beeindrucken. Sein Ziel ist zu beweisen, daß „der Mensch das Resultat der äusseren Zustände der Umgebung ist, in der er leben muß, und von denen die Fortentwicklung der Menschheit bestimmt wurde und wird“. Alles nachvollziehbar, es handelt sich keineswegs um originelle Gedanken, sondern um damals von der neueren Philosophie verbreitete und ziemlich populär gewordene Ideen. Aber Filareto sucht hier eine materialistischere Ableitung der Funktionen der Vernunft als solche, die sich aus der Beeinflussung durch die Umgebung, genauso wie die Körperfunktionen, entwickeln.

Dann geht er doch auf die Entwicklung der Produktionsmittel als Basis der Gesellschaftsformationen ein, freilich nicht im Sinne von Marx, d. h. Produktivkräfte und deren Entwicklung als Bestimmung der Produktionsverhältnisse, also der Klassen usw. …..sondern als eine Aufgabe, eine „Arbeit der Vernunft, und so erkennen wir, daß die Vernunft in unserm Leben die Rolle des theoretischen Zeichners in der Technik spielt. Dann kommt der praktische Konstrukteur und zeigt uns die Irrtümer der Theorie. Das ist die richtige Interpretation des historischen Materialismus“ und so arbeitet er die Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft als Widerspiegelung der von der Vernunft geleiteten Veränderung der Maschinen, der Bedürfnisse und der Produktionsprozesse heraus. Also an die Stelle „objektiver“ Beziehungen in der menschlichen Gesellschaft setzt F.K. die bewußte Rolle der Vernunft, die voluntaristische Möglichkeit des Eingriffs. Er ruft dazu auf, da wir diese Vernunft besitzen: „also benutzen wir sie!“.

Aus Gründen, die nicht weiter erklärt werden, behauptet er, daß die „Beziehungen zwischen ihrer Vernunft und den ökonomischen Zuständen“ von den Menschen nicht klar genug begriffen werden. Und deswegen können die Menschen nicht erkennen, daß sie Individuen und nicht nur Mitglieder einer Gruppe sind. Würden sie das einsehen, würden sie sich als Weltbürger betrachten und nicht in den staatlichen oder nationalen Grenzen und Kategorien gefangen bleiben. Auf diese Weise begründet F.K. die Notwendigkeit der überwindung des Nationalismus, des Chauvinismus und kritisiert die überholte Politik der sozialistischen Parteien, ihre Kriegsbegeisterung und -beteiligung 1914. Selbst Lenin wird nicht verschont, und seine „Bestrebungen um die Erhaltung des russischen Reichs… (ist) … der schlagendste Beweis dafür, daß auch die fortgeschrittensten Führer der heutigen Menschheit zur Zukunft noch vollständig in der Ideologie des nationalistisch kapitalistischen Gesellschaftsaufbaues stecken“. Immerhin ein antizipierendes Urteil, da Lenin damals noch auf den Ausbruch von revolutionären Entwicklungen in anderen fortgeschritteneren Ländern wartete und die Losung des „Sozialismus in einem Lande“ noch nicht ausgegeben worden war.

Nun kommt er zu einem ziemlich verwirrenden Punkt: er vergleicht die Absurdität der Kriege zwischen Nationen mit dem Kampf zwischen den „wirtschaftlichen Gewalten“ innerhalb der Staaten; mit anderen Worten, er negiert die Bedeutung der Unterscheidung von Klassen und behauptet, daß die Gegenüberstellung von Kapitalisten und Arbeitern keinen Platz für den „kleinen Kaufmann“ oder den „Kleinfabrikanten“ läßt, deren Interessen „sich ungeheuer von denen“ des „Mitgliedes eines Riesentrustes“ oder des „Besitzers eines Riesenkaufhauses mit Filialen in allen Städten“ unterscheiden. Dasselbe passiert mit der Gegenüberstellung der „Landwirte“ und der „Kleinbauern“. Deswegen meint F.K., daß man „nicht von einer einheitlichen bourgeoisen Kapitalistenklasse sprechen“ kann, „die von Einem Gedanken und Einer Seele beherrscht wird“.

Aus diesen Unterschieden zieht er die Schlußfolgerung, daß es auch Unterschiede in „der intellektuellen Sphäre“ geben muß. Also nicht klassenspezifische Unterschiede spielen für Filaretos Eingriff in den gesellschaftlichen Prozess eine Rolle, sondern die Individuen mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Charakter, ihren Interessen und ihrem Durst nach Wissen und Kunstgenuß. Und aber auch ihre Unterschiedlichkeit, d. h. daß die „Menschen nicht gleich sind“. Hier müssen wir eine längere Passage zur treuen Wiedergabe zitieren:

„In der Bourgeois-Klasse finden wir viele Individuen, welche nichts kennen, als die stupidesten Zerstreuungen durch Kartenspiel und Saufen, eine Unterhaltung über ihre Beschäftigungen und die Weiberfrage, d. h . galante Abenteuer, oder die Erscheinungen der pornographischen Literatur, die ihnen Gelegenheit gibt, neue Zoten und Schweinereien zu erfinden. Spricht man mit solchen Menschen über ethische oder ästhetische Fragen, so lächeln sie auch laut über den verrückten Idealisten. Und diese Menschen sind nicht Arbeiter, denen es an der Zeit zum Lernen gefehlt hätte, sondern ich spreche von Menschen, die studiert haben, von Doktoren und Professoren, von Menschen, welche die Höhe des modernen Unterrichts erreicht haben. Andererseits finden wir sicher in der Bourgeois-Klasse Menschen, welche dieses Missverhältnis zwischen unserer geistigen Ausbildung und unserm ethischen Tiefstand sehen und fühlen, und welche sich bemühen, eine neue ethische Basis für unser Leben aufzubauen. Aber auch diese können die Zusammenhänge zwischen der ökonomischen und ethischen Frage nicht sehen, auch sie können nicht erkennen, das die Fehler der jetzigen Gesellschaft auf der Unrichtigkeit des kapitalistischen Systems beruhten, und nur einige wenige Individuen, die hervorgegangen sind, aus denselben sozialen Zuständen, denselben Schulen, demselben Milieu, erfassen diese Beziehungen, und von diesen wenigen wiederum nur sehr sehr wenige sind imstande die Konsequenzen ihrer Erkenntnis zu ziehen. Was ist nun die Ursache dieser Erscheinung? Das ist die Tatsache, daß die Menschen nicht gleich sind, daß sie sich in Körper- und Geisteskräften unterscheiden, daß es nicht eine Menschheit gibt, sondern eine Masse unendlich vieler Individuen, welche nur in Bezug auf die äussere Erscheinungsform ihres Körpers gleich sind, die ihnen den Titel Mensch verleiht…. Aber wirklich innerlich…unterscheiden sie sich weitestgehend“.

Diese Ungleichheit unter den Mitgliedern der „Bourgeois-Klasse“ macht nach Meinung F.K.’s deren Betrachtung als eine einheitliche Klasse unmöglich. Nun gilt daselbe, wie er weiter ausführt, für die „Arbeiter-Klasse“. Innerhalb ihrer sind auch „Interessengegensätze“ und sogar noch grössere „Unterschiede in Bezug auf die intellektuelle Ausbildung der einzelnen..“ vorhanden. Eine reine „materialistische“ Betrachtungsweise ist falsch, denn sie trennt „den Körper von der Seele“, deswegen sei jede „vereinfachende“ Analyse der Probleme falsch, man müsse begreifen, daß „die menschliche Entwicklung ein äusserst komplizierter Prozess“ sei, und um „gerecht über irgend eine Erscheinung urteilen zu können“ müsse man „alle Ereignisse und Ursachen in Betracht ziehen“. Filareto trennt hier mühselig aber eigentlich nicht unrichtig Klassenbewußtsein von Klassenzugehörigkeit, schüttelt das Ergebnis der Ausführungen aber ein wenig durcheinander und kommt dann zum Schluß, daß es keine Klassen gibt, folgerichtig muß der Kampf auf der Ebene des Bewußtseins, als „Kulturkampf“ und nicht als Klassenkampf stattfinden.

Nach einer etwas ungeduldigen Erklärung, er müsse immer wieder wiederholen, „daß wir den Menschen als Naturprodukt betrachten“ müssen, für dessen Leben „keine anderen Gesetze als in der gesamten übrigen Natur gelten“, entwickelt er „naturbezogene“ Argumente über den Unterschied von zwei fundamentalen Typen von Menschen, die er so definiert: „der Mensch (stellt) auch … nur eine Erscheinungsform der beiden Kraftformen, der aufgespeicherten und der lebendigen Kraft (dar). Diese beiden Kraftformen stellen sich im Individuum dar, und wir sehen nun zwei Typen von Menschen: beim ersten Typ ist die lebendige Kraft stärker, beim zweiten kleiner und schwächer als die aufgespeicherte; daher ist der erste Typ lebhaft, vorwärtsstrebend, fleissig und abenteuerliebend, der zweite bequem, ruhebedürftig, konservativ, klug und vorsichtig“. Im Prinzip gibt F.K. keinem der beiden Typen den Vorzug, aber in der Auswahl der Merkmale kann man leicht sehen, was sein Ideal ist, was er lieber verkörpern möchte und was er den Mitgliedern der Kommune als wünschenswertes Ziel vorlegt. Er würde alle Kennzeichen des ersten Typus zuzüglich der Klugheit des zweiten auf sich beziehen, und den Freunden und Kameraden, die dem „Vormarsch“ der Kommune im Wege stehen würden, unbedingt als „konservativ“ und „bequem“, als „ruhebedürftig“ beschimpfen.

In jedem Falle sind die Typen-Unterscheidung und die nachfolgenden Ausführungen etwas dürftig und abwegig, um die herkömmliche Theorie der Klassen und der Rolle des Klassenkampfes in der Geschichte zu widerlegen, denn darum geht es ihm hier, der ja mit dieser Broschüre den „Kulturkampf“ an die Stelle des „Klassenkampfes“ setzen will. Mit anderen Worten, er erklärt den interessierten Kameraden, die ja zumeist aus den benachteiligteren Schichten der Gesellschaft stammen, daß nicht die Gewerkschaften, nicht die mit ihnen verbundenen politischen Parteien, nicht der von Sozialdemokraten organisierte Kampf in den Institutionen und um Verbesserungen der Arbeits- oder Lebensbedingungen, oder der von Anarchisten und Kommunisten offene Klassenkampf, inklusive der Methoden der Demonstrationen und mehr oder minder gewalttätigen Mitteln des Strassenkampfes die Lösung sind. Das ist nicht leicht zu übernehmen, zumal gerade in Berlin diese Bewegungen einen zunehmenden Einfluss und bereits über eine breite Massenbasis verfügten. Wir wissen, daß Mitglieder der „Goldberg-Commune“ wie etwa Hannchen Gloger aus der linkssozialistischen Ecke kamen, die Kontakt zu Rosa Luxemburg und zum Spartakus-Bund seit dessen Gründung hatte. Darum hat Filareto ein denkbar einfaches Wirtschaftsprogramm entwickelt , das schnelle Lösungen verspricht. Darum auch hat er, wie wir vermuten, Menschen der oberen Schichten der Gesellschaft auf ihre Beteiligung an der Kommune angesprochen oder um direkte Unterstützung gebeten.[1]Im Buch Harry Wildes, in dem er seiner Enttäuschung über den „Jünger“ Nietzsches Filareto Kavernido Luft macht, erzählt er, allerdings aus zweiter Hand, daß dieser zuweilen eine Art … Fußnote vollständig anzeigen. Denn in seinen Ausführungen zu der Ungleichheit der Menschen fährt er so fort: „Wir haben zwei Typen, die nach ihren physischen und psychischen Kräften verschieden sind. Diese Typen brauchen nicht Feinde zu sein, sie können friedlich nebeneinander leben, aber sie können nicht miteinander arbeiten; sie können eine Basis finden auf der sie austauschen können, was sie von ihren Produkten selbst nicht brauchen, und ich bin überzeugt davon, daß der Schwache bei einem derartigen Austausch in einer freien Gesellschaft nicht schlecht fahren wird“

Paradiesisch! Ist das nicht ein schönes Versprechen? Alles, die Verteilung der Arbeitsaufgaben und der Früchte der Arbeit geschieht auf freiwilliger Basis, wenn man erst die Grundlagen der neuen Gesellschaft in der Kommune geschaffen hat. Schön wäre es gewesen! Aus der Unmöglichkeit, dieses utopische Programm zu verwirklichen, entsteht der Drang zur Auswanderung, immer weiter Weg, zuerst nach Südfrankreich, dann nach Korsika, später in die Karibik, auf der Suche nach einem eigentlichen „Nimmerland“.

Filareto benutzt dann ein Gleichnis um zu erklären, daß die einzelnen Menschen, die Individuen, indem sie sich zu Kommunen zusammentun, zusammenarbeiten und zusammenleben, im allgemeinen Schnitt bessere Möglichkeiten haben werden, „nach seinen eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu leben, ohne daß der eine die Freiheit des andern stört, aber niemals können sie über die Mitel streiten, mit denen ein solcher Zustand erreicht weden soll“.

Hier seine Parabel: „Mehrere Menschen wollen zusammen einen Ausflug in die nächste Stadt machen; die einen haben ein Automobil. Die andern einen kleinen Karren mit einem Klappergaul davor: Was können sie tun? Es wäre lächerlich, wenn die zweiten verlangten, daß die Automobilisten nur so langsam führen, als ihre Mähre laufen kann, denn das wäre ein Plage für die Automobilisten, würde viel zu viel Brennstoff und Maschinenkräfte verbrauchen, und den zweiten nicht den geringsten Vorteil bringen. Andererseits wäre es gleich lächerlich, wenn die Automobilisten verlangen wollten, daß die andern ihren Karren hinten an das Automobil anbänden, und das Pferd zu Hause liessen. Der Karren würde, so wie das Automobil nur seine halbe Geschwindigkeit entfaltete, sehr schnell in tausend Stücke gehen. Die einzige Lösung dieses Problems kann nur die sein, daß sie gemeinsam die Stadt verlassen, die Automobilisten gleich nach ihrer Ankunft das Diner bestellen, so daß nun die Wagenfahrer bei ihrer Ankunft den Tisch gedeckt, die Stühle bereit finden, und nur nötig haben, sich niederzusetzen und mit dem Essen zu beginnen“.

Daraus folgt die Forderung „an alle fortschrittlichen Elemente“: gehen wir zum nächsten Zustand der Menschengesellschaft voran! Und jeder soll so schnell gehen, als seine „Fortbewegunsmittel ihm das gestatten“. Das Ziel des Weges hat F.K. bereits in seinem ersten Heft aufgezeigt: „die Erhöhung und Kräftigung unserer Instinkte, d. h. der Aufbau eines wahren Kulturzustandes der Menschheit“. Und die Tatsache, daß jede Gruppe oder jeder Mensch eine andere Meinung zu haben scheint, die Tatsache, daß es Klassenkämpfe zu geben scheint, daß es „Kämpfe zwischen Sozialdemokraten, Anarchisten, Revolutionären und allen jenen Zwischenmitgliedern und Mischungen dieser Dogmen und Gesichtspunkte“ gibt, zeigt eigentlich, daß sie ein „Mittel der natürlichen Entwicklung sind, um unsere Vernunft zu höherer Entfaltung zu bringen“. daß all diese Spiele und Kämpfe „fatalistisch“ oder naturnotwendig an dieses Ziel heranführen.

Aber jetzt können wir bereits diesen „Kulturzustand“ erkennen. Also, schlägt Filareto Kavernido ungeduldig vor, „müssen wir probieren“, um ihn zu erreichen, und deshalb erklärt er: „ich nenne mich selbst ‚Probist‘ und fordere: handelt und schwatzt nicht nur! Deshalb rufe ich: probiert! Werdet Probisten! Gebraucht Eure Kräfte, um eine neue Kulturgemeinschaft aufzubauen, dann wird die jetzige verfaulte Gesellschaft von selbst sterben. Kämpft den Kulturkampf statt des Klassenkampfes“.

Damit endet Heft 3. Wir nehmen an, daß das geplante aber nicht veröffentlichte oder vielleicht verschollene Heft 4 über die „Grundideen des Aufbaus“ genauere Ausführungen dessen beinhalten sollte, was sein Vorschlag war für die Organisation in der Kommune, ihre wirtschaftliche Basis und ihr Austausch mit der Außenwelt, ihre interne Organisation, die Rolle der Erziehung, sicherlich auch eine Erklärung zur Praxis der freien Liebe – die er in den beschriebenen Schriften nicht geliefert hat – und andere brisante Fragen, auf die er bei den Diskussionsabenden mit den Meinungsführern anderer Gruppen vermutlich mündliche Erklärungen abgegeben hat. Ein Teil dieser Vorschläge und Antworten befindet sich in den oben erwähnten Prinzipien „Zur Propaganda“, jedoch in einer sehr verkürzten Form. Ansonsten können wir sie höchstens aus den Texten und aus den uns bekannten Lebensformen der Kommune rekonstruieren. Paradoxerweise hat er in einem kürzlich aufgetauchten Brief aus dem Jahre 1925 behauptet, dass es keine Schriften von ihm gibt. In diesem Brief, an die Schweizer Anarchistin Margarete Hardegger mit der Bitte um Einladung in die Schweiz gerichtet (siehe KORRESPONDENZ auf dieser Webseite) sagt er: „Propagandaschriften von uns existieren nicht. Alles was ich geschrieben habe ist in der Idozeitschrift „Libereso“ früher „La Socio“ veröffentlicht“. Heisst das, dass er seine Vorstellungen, die er in diesen Mitteilungsblättern 5 Jahre vorher dargelegt hatte, nicht mehr für richtig hält? Verschweigt er deren Existenz vielleicht weil er meint, dass sie ihm und seiner Gruppe den gewünschten Weg in die Schweiz verbauen könnten? Fragen, die wir noch nicht beantworten können.

Fussnoten

  1. Die nachfolgenden Zitate stammen aus dem Brief, den er am 28.02.1921 an einen anarchistischen Publizisten, wahrscheinlich Pierre Ramus in Wien, geschrieben hat. zurück zum Text
  2. Harry Wilde: „Theodor Plievier – Nullpunkt der Freiheit – Eine Biographie“, Desch 1965 zurück zum Text
  3. „Zwischen Kaiserreich und deutschen Republiken“, Rundfunkinterview mit Lotte Fenske, Berliner Rundfunk 2003 zurück zum Text
  4. Es ist vielleicht nur auf dem ersten Blick verwunderlich, daß Filareto die berühmte Vertonung von Richard Strauss „Also sprach Zarathustra“ nicht erwähnt. Es bestätigt den sehr „konservativen“ Geschmack in Kunstfragen, den wir bei Filareto vermuten. Dennoch muss er dieses Werk, das 1896 in Frankfurt uraufgeführt und bald danach eine Art zweite Premiere in Berlin feierte, gekannt haben, denn es handelte sich um eine frühe, erstklassige Anerkennung des Gedichts seines Idols Nietzsches. zurück zum Text

Santiago Tovar – 2004

Fußnoten

Fußnoten
1 Im Buch Harry Wildes, in dem er seiner Enttäuschung über den „Jünger“ Nietzsches Filareto Kavernido Luft macht, erzählt er, allerdings aus zweiter Hand, daß dieser zuweilen eine Art Doppelleben führte, das ihn in die höheren Kreise der Gesellschaft, einschliesslich aufwendigem Soupieren im Smoking bei Kempinski oder Horcher aufsteigen liess. Und ich vermute, er hat diese Mitglieder der oberen Gesellschaft mit seinem Charme und seiner Faszinationskraft um Mittel für seinen Kampf für die Zukunftsgesellschaft angepumpt. zurück zum Text

Kultur und Zivilisation

Heft 2 der Mitteilungsblätter aus Zarathustras Höhle
Einführung von Santiago Tovar

Interessanterweise nutzt Filareto Kavernido im Heft 2 der Mitteilungsblätter, „Kultur und Zivilisation“, die ersten Seiten zu etwas wirren Erörterungen, ob die barbarisch gegeneinander kämpfenden Völker des Ersten Weltkrieges als Kulturvölker gelten sollen oder nicht. Dies soll zur Erklärung des Begriffes „Kultur“ beitragen. Da die Deutschen etwas später den Gipfelpunkt ihrer Kultur erreicht hätten als ihre Nachbarnationen, hätten sie so eine optimale Gelegenheit, die sie auch nutzten, „direkt aus dem Feudalismus in den Zustand der neuen Kultur überzugehen“. Daher „entstammten auch die größten Kulturphilosophen der deutschen Rasse“ – hier übrigens finden wir eine Erwähnung des Wortes Rasse im Zusammenhang mit Kultur, die nur aus der Feder eines völlig assimilierten Juden stammen kann – und es sind „Goethe und Nietzsche, die uns die Grundlagen dieser neuen Kultur der Zukunft“ liefern, eine Kultur die uns „alle großen Musiker von Bach bis Beethoven, die auch nicht zufällig alle der deutschen Nation entstammten, in ihrer Musik ahnen lassen“.Es folgen einige ausführliche Erklärungen über den Menschen als Ergebnis von Wechselbeziehungen mit der Natur oder den Umständen, die die Wissenschaft auch ergründen soll. So versucht er zu einer materialistisch begründeten Definition des Menschen und des Daseins zu kommen: der Mensch ist, wie jedes „andere Naturprodukt“ – und hier zitiert er ausdrücklich den damals enorm populären Physiker und Biologen und auch von Darwin beeinflussten Ernst Haeckel (1834-1919) – die „Erscheinungsform einer bestimmten Anzahl von Substanzmolekülen“. Unter Zitierung der damals neuen wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse über Energetik, über die Elektronen- und Ionentheorie usw. gelangt er zu einer Definition des Menschen als Teil der Natur und Ausdruck „der Wechselwirkung der beiden Erscheinungsformen der Allkraft“…:“die lebendige, aktuell wirksame – auch virtuelle oder kinetische genannt – und die aufgespeicherte – potentielle oder latente – Energie, die als das Resultat geleisteter Arbeit für eine neue Arbeitsleistung zur Verfügung steht“. An diese als wissenschaftliche Grundlage angegebene Definition knüpft er seine Lieblingstheorie über den „Fortpflanzungstrieb“ als Erscheinungsform der „lebendigen Kraft“ und den „Selbsterhaltungstrieb“ als Erscheinungsform der „potentiellen Energie“ an. Diese beiden Triebe „machen das Leben überhaupt aus“. Sie sind „als das innerste Wesen unseres Lebens“ anzusehen, deswegen kann der „Zweck unseres Daseins“ nur erreicht werden, indem „wir uns diesen beiden Instinkten anvertrauen und uns von ihnen unbedingt führen lassen“. Es gilt, die beiden Triebe zu stärken und höher zu entwickeln. Dabei soll man keine Angst haben. Der „Selbsterhaltungstrieb zwingt den Menschen dazu, die Natur und ihre Kräfte zu studieren, um die Gefahren vermeiden zu können, von denen er in jedem Augenblick bedroht wird“. Es handelt sich um die Heilkunst, die Biologie, die Wissenschaft insgesamt und das Produkt davon, die Technik. Und dies, was „den Ruhm und den Stolz unserer Zeit“ ausmacht, ist nicht ein individuelles, sondern ein von den sozialisierten Menschen produziertes Gut. Man braucht kollektive Arbeit, Maschinen statt Handarbeit, also eine Arbeitsteilung. In der heutigen Gesellschaft würde aber die Organisationsform dieses Zusammenlebens „aus dem Egoismus (entstehen), da doch der Selbsterhaltungstrieb der Ausdruck des Egoismus ist“. Danach holt er aus zu einer ethischen Kritik der heutigen Gesellschaft, in welcher das Gesetz der Stärkeren regiert, und er bemerkt, wie „z.B. die Großfinanziers aller Länder“ sich um keinerlei Sittengesetze kümmern. Allerdings seien diejenigen, die den „Altruismus“ oder die „Nächstenliebe“ predigen, nicht unbedingt besser, denn das sei nur der Ausdruck ihrer eigenen Schwäche, die sie durch Solidarität und Rücksicht auf die Nachbarn überwinden möchten. Das Ergebnis des Altruismus, also auf die Wünsche der anderen Rücksicht zu nehmen, statt „den Bedürfnissen des eigenen Körpers gemäß“ zu handeln, kommt einer „Unterdrückung der Rechte des Menschen“ gleich. Denn unsere eigenen Bedürfnisse müßen allein „die Grundlage unserer Handlung sein“. Der vermeintliche Widerspruch zwischen dem Ausleben des Selbsterhaltungstriebes, der zum Untergang der Gesellschaft führen soll, und der unbedingt notwendigen Befolgung dieses Instinkts löst sich durch das Pendant des Fortpflanzungstriebes; dieser Instinkt erweist sich als stärker als der andere: denn „mit und durch die Liebe wachsen wir, die Liebe läßt uns die Vorahnung des hohen Glückes empfinden, daß in dem Bewusstsein liegt, ein höheres Ziel im Leben erreichen zu können als die Befriedigung der aus dem Selbsterhaltungstrieb geborenen Wünsche für das ach! so erbärmliche Alltagsbehagen.“ Denn die Ausdrucksform des Fortpflanzungstriebes ist der Liebesakt, und wir beobachten, wie „die Insekten bei der Zeugung sterben“ und daß die meisten Tiere „jede Vorsicht verlieren wenn sie von der Brunst… beherrscht werden“. Beim Menschen sieht man, wie er „von der Liebe zu den größten Handlungen, deren er fähig ist, emporgetrieben“ wird.

Und weil wir im allgemeinen nicht durch Worte erklären können, „was uns die Liebe empfinden läßt“ hat die Menschheit ein anderes „Ausdrucksmittel für diese Empfindungen (gefunden): Die Kunst. Mit der Melodie eines Musikwerkes, durch die in seinem Drama oder seiner Erzählung geschilderten Charakteren, durch den Ausdruck des Gesichtes seiner Statue oder Malerei, erzählt uns der Künstler, was die Liebe ihn hat fühlen lassen. Beim Hören, Lesen und Sehen solcher Kunstwerke werden diese großen Empfindungen, die wir ursprünglich durch die Liebe und den sexuellen Orgiasmus kennen gelernt hatten, wieder wach gerufen.“ Weiter heisst es, auf den Gegensatz zwischen Kunst / Liebe / Fortpflanzungstrieb und Technik /Wissenschaft /Selbsterhaltungstrieb beharrend, und es lohnt sich zu zitieren angesichts der Bedeutung der Liebe, ja der Propaganda, die Filareto am Beispiel seiner Kommune in Sachen Freie Liebe und Sexualität ausgeübt hat: „und jetzt sehen wir, daß die Kunst die Menschen fester vereinigt als die Technik…. weil die durch die Kunstwerke ausgelösten Empfindungen unvergleichlich höher sind als die, welche die Technik hervorzurufen imstande ist“. Deswegen können nur Menschen ein „eigenes Urteil über ein Kunstwerk“ besitzen, welche diese Empfindungen der Liebe kennen. Und „natürlich müssen die Menschen ästhetisch genügend vorgebildet sein, um das (Kunstwerk) verstehen zu können“. Nun ist die Kunst selbstverständlich über dem Niveau „der rein tierischen Geschlechtsbetätigung… denn die Auslösung dieser Empfindungen durch die Kunst hat nicht jene Ermattungszustände zur Folge, die uns das Verweilen auf den Gipfeln der Erregung verbieten; vielmehr hält uns die Kunst, solange wir ihre Werte geniessen, auf dieser Höhe, wodurch sie uns gerade stärker macht und höheren und immer höheren Entwicklungszuständen unserer Gesamtpersönlichkeit entgegenführt.“

So findet F.K. als Quelle der kleinsten (Familie oder Kommune?) oder der größten Gesellschaft (Gesamtgesellschaft) den Egoismus, auf dessen individuelles Wirken ihre Funktionsweise basiert; es handelt sich aber um einen wahren „Egoismus, welcher wirklich das höchste Entzücken und Genießen der Persönlichkeit fordert“. Der Egoismus, wiederholt er, arbeitet durch das Ausleben der beiden Instinkte. Also müssen wir sie zu „einem möglichst hohen Zustande … entwickeln“, um zum Zustand der „wahren Kultur“ zu gelangen. Ein Kennzeichen der heutigen Gesellschaft ist die überbetonung der technischen, zivilisatorischen Aspekte zu Lasten des Fortpflanzungstriebes, der „unterdrückt“ ist.
Schließlich faßt er sein Programm des Kulturkampfes im letzten Absatz zusammen, der eine Art Aufruf ist und den wir voll zitieren müssen, wobei anzumerken ist, daß er hier das Wort Sozialismus überhaupt zum ersten Mal erwähnt:
„Der wahre Sozialismus, welcher fordert, daß jeder Mensch seine Kräfte und Fähigkeiten, die ihm die Natur gegeben hat, ausnutze, um Werte zu schaffen, das er nehme, was er für sein Leben braucht, und daß er von seinem eigenen, genügend durch- und ausgebildeten Gewissen regiert wird, ist ein solcher wahrer Kulturzustand. Deshalb sage ich: Wir haben gesehen, daß die Hingabe an unsere natürlichen Instinkte uns zu immer höheren Zuständen des Lebens führt. Wir haben einen Gesellschaftszustand erkannt, welcher eine derartige Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, d. h. dieser natürlichen Instinkte, sicher stellt. Also, legen wir den Grund zu dieser Gesellschaft, bauen wir sie auf, und wir bauen die neue Kultur auf; sie ist in uns, in jedem Individuum – zeigen wir sie.“
Sein System versucht, in sich geschlossen zu sein: der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft ist der Kern der Entwicklung beider. Die wahre Gesellschaft der Zukunft ist in jedem Individuum, es muß dies nur in Einklang mit dem Ausleben der Instinkte bringen, wobei die eigenen Bedürfnisse die Triebkraft zu dieser Weiterentwicklung darstellen. Man muß wollen, man muß dabei sein, und man wird dann an der Kultur partizipieren, an der Umwandlung der Gesellschaft und außerdem das nehmen können, was man „für sein Leben braucht“, also auch die wirtschaftliche Not lösen, ein attraktives Programm, insbesondere in den Krisenjahren 1918-1923.

Aber nicht genug damit, nun erklärt F.K. in seinem dritten und wohl letzten Heft den Zusammenhang zwischen Kultur- und Klassenkampf.

Santiago Tovar – 2004

Kulturphilosophische Betrachtungen

Heft 1 der Mitteilungsblätter aus Zarathustras Höhle
Einführung von Santiago Tovar

Die „Kulturphilosophischen Betrachtungen“, das erste Heft der „Mitteilungsblätter“, sollen eine Interpretation der Geschichte der Menschheit und deren Fortschritt bzw. Verlauf darlegen. Dabei bemüht sich F. K., sowohl gegen die religiöse als auch gegen die atheistische Interpretation zu argumentieren. Vielmehr bezieht er einen agnostischen und idealistisch geprägten Standpunkt: man muß vermuten, daß es ein höheres Wesen gibt, weil es die perfekte Idee oder die Perfektion in der Kunst gibt, aber es ist müssig, über dessen Existenz, die nicht beweisbar ist, zu debattieren.

Der Fortschritt geht „mit gewundenen Abstechern nach rechts und links“, nicht geradlinig vonstatten. Er ist nicht „das bewußte Werk menschlicher Vernunft“, sondern vielmehr es ist diese „menschliche Vernunft…die erst sehr spät hinter den Kräften, die uns treiben, die wir nicht kennen, aber ahnen, fühlen, genialisch erfassen, hinterher hinkt.“ In diesem Zusammenhang erklärt er sein Verständnis der Begriffe „Zivilisation“, worunter man „den Stand unserer wissenschaftlichen und technischen Erfahrungen und Erzeugnissen“ zusammenfasst, während „Kultur“ den „Grad von einheitlicher Entwicklung unserer sittlich-künstlerischen und wissenschaftlich-technischen Ausbildung“ darstellt.

Dann, in enger Anlehnung an Nietzsche, schildert er die verschiedenen Etappen der Menschheitsentwicklung seit dem Untergang der alten hellenischen Kultur. Mit dem Sieg der Ideen Sokrates im 5 Jh. v. Chr. setzt sich die „Welt des Wissens“ gegen die „Welt der Kunst“ durch. Das für F. K. damit einhergehende bedauernswerte Ergebnis ist das Ende einer Kultur der ästhetik, welche zur allgemeinen Erhebung beiträgt, und welche „die schönste und reinste überwindung aller Schmerzen und Enttäuschungen empfindet, die das Leben uns schlägt“ bedeutet; sie wird ersetzt durch das Heraufkommen einer Gesellschaft, in der das „Suchen nach Wissen … zur Grundlage einer Gesinnungsrichtung (wird)…. die bis heute dem ganzen Menschengeschlechte auf seinem Entwicklungsgange vorgeschwebt hat“. Hier haben auch „weniger Begabte die Möglichkeit, etwas Neues zu finden und den Ruhmeskranz der Erfinderlorbeeren auf ihr Haupt zu drücken“. Es wird auf „alle künstlerischen Tröstungen verzichtet“. Somit handelt es sich also nicht mehr um „Kultur“, sondern um „Zivilisation“. Er möchte wissenschaftlich bleiben und bemüht sich, „nach und nach das eine oder andere Geheimnis der Natur abzuringen“. Nebenergebnis dieser „märchenhaft anmutender Höhe wissenschaftlich-technischer Entwicklung und Erkenntnis“ ist, das sagt er hier etwas unvermittelt und meint den gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg, „dieser fürchterliche Krieg“. Aber diese Suche nach der Wahrheit durch den „wissenschaftlich-strebende Mensch“ wird niemals entlohnt werden, die „Wahrheit“, das „letzte Welträtsel, die Frage nach dem Anfange aller Dinge“ niemals erschlossen werden kann. Die Folge ist eine „tiefe Entmutigung“ für die Menschen; die Unmöglichkeit, das Ziel zu erreichen, wird sie dazu treiben, in „den absoluten Pessimismus zu verfallen, und den Kampf mit dem Leben ganz aufzugeben.“ F. K. unterscheidet nun drei Perioden in diesem Geschichtsabschnitt: zunächst die römische Zeit, die Zeit der „praktischen“ Menschen, „nur Leiden, nur Arbeiten und Mühen, aber keine Erholung“, eine Zeit exzessiven „Genußes berauschender Getränke, Liebeslebens“, die aber keine „nachhaltige Befriedigung“ gewähren kann. Dann das Christentum, das die letzten Reste der griechischen Kultur ablöst und dem Leben den Sinn gibt, sich „für das bessere Jenseits“ vorzubereiten. Es gibt also ein Ziel wieder, und diese Epoche dauert 1400 Jahre, bis zur dritten Etappe, der Renaissance, als „Widerspruch zwischen menschlicher Natur und einer solchen lebensverneinenden Philosophie (sich Bahn bricht) zur Erkenntnis“. Es ist die Wiedergeburt der hellenischen Kultur. Es folgt ein schneller überblick über den Kampf zwischen den sich auf dem Rückzug befindenden christlichen Werten und letzterer: Albigenser, Hussiten, Savonarola, Luther werden in diesem Zusammenhang aufgezählt. Der Protestantismus drückt die „protestierende Hoffnung“ gegen den „katholischen Gewissenszwang“ aus: es wird die Musik Bachs, Haydns und Beethovens mit der Neunten Symphonie als Gipfelpunkt zitiert, und sie wird als die neue Kunstgattung genannt, gleichsam die „höchste Höhe und tiefsten Empfindungen“, die sich in den christlichen Pessimismus nicht mehr einfügen wollte. „Beim Hören dieser Musik winken uns neue Ziele; hier werden wir über uns selbst hinausgehoben, hinaus über die kleinlichen Bedürfnisse der individuellen Seele zu höheren Aufgaben.“ Wie die Musik, so auch das dichterische Genie, zuallererst Goethe mit seinem Faust. Kant und Schopenhauer arbeiten, trotz der Offenbarungen auf dem Gebiet der Kunst, noch in der Begriffswelt des Sokrates; Schopenhauer mit dem „Bekenntnis des absoluten Pessimismus“ bedeutet der Höhepunkt der sokratischen Kultur….„und – ihr Ende“. Und dann kommt der Schritt in die Richtung der überwindung dieser Unvollkommenheit und um „diejenige Höhe erreichen zu können, die uns befähigt… den Pfad der Kulturentwicklungen in allen seinen Windungen überstehen zu können“. Und diesen Schritt macht Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie, gewissermaßen mit einem Fuß „auf dem Gipfel der sokratischen Erkenntnis, mit dem anderen auf dem des musikalischen Empfindens…“. Nietzsche geht einen Schritt weiter und liefert seine „wunderbare Dichtung des Zarathustra“ (siehe Fussnote 4). F.K. stellt hier die Verbindung zwischen Zarathustra und Goethes „Faust“ her und zitiert (Zweiter Teil, 5. Akt) die Stelle, an der Faust, um seinen Einfluss bzw. seine Vorstellungen ohne Rücksicht auf Verluste zu gestalten, die Hilfe von Mephisto herbeigerufen hat; trotz der tragischen Folgen seines Handelns zieht er daraus den Schluß, daß man unermüdlich streben muß:

„Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungne;

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß“

usw.

Aus dieser Ausführung leitet er ab, daß die freie Gemeinschaft, die Goethe meint, nur als freies Volk auf freiem Grunde stehen kann, daß sie „keine gewalttätige Zentralautorität“, also „Staat, Parlament, Sowjets, Mehrheitsbeschluß usw.“ braucht, denn die Menschen haben „Wissen und Gewissen genug, selber ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden..“. Was sie aber brauchen, ist eine „geistige Autorität, der sie folgen, weil sie ihnen den Weg zum eigenen Inneren weist“, und diese Aufgabe erfüllt Nietzsches Zarathustra. Er beendet seine Betrachtungen mit dem Aufruf, die zitierten Dichterworte Goethes als Grundlage ihrer Arbeit auf dem Weg „zu einer neuen freien Gesellschaftsorganisation“ zu nehmen.

Santiago Tovar – 2004

Wer ist Filareto Kavernido?

Dr. Heinrich Goldberg erzählt über seine Wandlung in Filareto Kavernido

Aus der Zeitschrift “La Socio” (Die Gesellschaft), von der Gruppe der Idista Laboristi seit 1918 in Arnhem (Niederlande) monatlich herausgegeben, entnehmen wir einen von Heinrich Goldberg im Dezember 1918 veröffentlichten Artikel. Er war einer der eifrigsten Mitarbeiter der Zeitung; möglicherweise war er auch an deren Gründung beteiligt, da er, bevor er mit dem Zusammenbruch des deutschen Reichs nach Berlin zurückkehrte, einige Zeit in Den Haag lebte.
Dieser Artikel ist deswegen interessant, weil er hier die Zeit seiner grossen persönlichen Krise beschreibt, die Ursache für einen grundlegenden Wandel in seiner Lebensart ist. Seine Eltern versuchten vergebens, ihm 1913 zu einem Ausweg aus der Niedergeschlagenheit zu verhelfen, indem sie mit ihm eine grosse Reise nach Amerika und durch mehrere europäische Länder unternahmen. Heinrich Goldberg erzählt in diesem Aufsatz wie er zum Namen Filareto Kavernido kam. Nachfolgend die deutsche Übersetzung.

Ein ums andere Mal stellt man mich und unseren Herausgeber diese Frage, so dass er nun, trotz seines eigentlich sanftmütigen Charakters, mich energisch dazu aufgefordert hat, endlich mal eine klare Antwort darauf zu geben. Ich aber möchte lieber auf die Frage antworten: “Was ist FILARETO KAVERNIDO?”, oder: “Was will FILARETO KAVERNIDO?”, denn meine Person ist eigentlich nur die materielle Erscheinung meiner Ideale, die nicht-adäquate Objektivation (Schopenhauer) der platonischen Idee des aristokratisch-ethisch-kommunistischen Anarchismus. Da ich befürchten muss, dass man mich noch viele Fragen dazu stellen wird, werde ich meinen Lebensweg darstellen. Dabei lasse ich jedoch zunächst mein erstes Leben aus und beginne mit der Zeit nach meinem Tod.

Denn ich war tot. Ich kam hin und wieder zur Besinnung, aber zeitweise war ich absolut tot. Meine Familie unternahm mit mir eine Reise auf einem Ozeandampfer, um mich mithilfe der Wunder jenseits des Atlantiks wieder zu beleben. Aber weder das lärmende Treiben New Yorks noch die imposanten Fabriken von Detroit noch die Erhabenheit der Niagara-Fälle konnten mich zurückbringen in die Welt der Lebenden. Ich besuchte Neapel, aber selbst das Mittelmeer mit seinen atemberaubenden Sonnenuntergängen konnte mich aus meiner Lethargie nicht reissen; auch nicht die wundervollen und aromatischen Düfte, die mich in transparenten Sphären zweierlei kristallklaren Blaus umgaben, die sich langsam verdunkelten und die Berge des Atlas und die bewaldeten Dünen der südlichen Küste Spaniens umhüllten und mit dem offenen Himmel zu verschmelzen schienen. Ich nahm all diese Schönheit in mich auf; nun konnte ich mich an den Bildern BÖCKLINS erfreuen, die ich bis dahin nicht verstanden hatte; ich war so bewegt, dass meine Augen sich mit Tränen füllten, aber selbst dann war ich immer noch tot. Ich tastete meinen Körper an beiden Seiten ab, aber ich spürte mich selbst nicht. Dann ging ich weiter nach Pompeji. Ich stand inmitten jener Ruinen, über welche ich in der Schule so viel gelernt und gelesen hatte. Ich besuchte die Museen Neapels und nach und nach spürte ich den Ruf des Lebens wieder. Dort konnte ich die Kultur erkennen, die sich auf all diese Gefühle gründete, die mich in jenem Moment übermannten; ich konnte die Spuren ganzer Generationen sehen, welche die selbe Aufregung gespürt hatten, die mich jetzt ergriff.

Ja, ich spürte das Leben wieder. Ich fühlte wieder Regungen in mir. Eine grosse Euphorie übermannte mich. Es war das erste Mal, dass der Schleier, der meinen Geist während meines Todes bedeckt hatte, sich lüftete. In Como verliess ich dann meine Familie und ging erst nach Lugano, in der Schweiz, und danach nach Paris, London… aber wonach suchte ich? Ich wusste es nicht. Aber jetzt weiss ich es: ich suchte das Leben, das von dem ästhetischen Sinn gelenkte geführte Leben, den die Reise in mir erweckt hatte. Ich erkannte jetzt diese Gefühle als dieselben, die in mir aufgelebt waren, seit die Liebe in mir erloschen war. Während ich umherirrte hörte ich auf einmal eine laute Stimme, hell und melodisch wie eine Glocke. Ich ging diesen merkwürdigen Tönen mit Neugierde nach und gelangte schliesslich zu einer grossen Kaverne. In ihrem Inneren sass auf einem Felsen ein alter Mann, mit einem langen, weiten, weissen Gewand bekleidet; seine Haare waren auch schneeweiss und bedeckten seinen Nacken und die Schultern; der weisse Bart reichte bis an seine Hüften. Doch er war kein Eremit. Seine listigen und naiven Augen glänzten mit dem Feuer eines Kindes. Er sah mich nicht; sein Blick war ins Unendliche gerichtet während er laut wie zu sich selbst sprach:

“Es gibt eine neue Art von Philosophie: Bei allem setzt sie das Mass ihrer Kritik an und opfert sich selbst im Namen der Wahrheit. Das Wahre und das Falsche sollen ans Licht kommen. Einige finde ich heraus, andere offenbaren sich selbst (denn es gehört zu ihrer Art, ein wenig enigmatisch zu bleiben). Ich wage es, sie mit einem nicht ungefährlichen Namen zu taufen: ich werde sie PROBISTEN nennen. Der Name selbst ist die letzte Prüfung; wenn man es mir gestattet, werde ich es versuchen.”

Nachdem er zu Ende gesprochen hatte näherte ich mich ihm und sprach: “Wer immer ihr seid, Euer Versuch spricht mich an. Wie möchtet Ihr mich taufen? Ich habe den Eindruck, dass Ihr der Täufer seid. Habt Ihr eigentlich keine Angst, Johannes’ Schicksal zu erleben?”

Der Greise lachte: ”Vor wem soll ich denn Angst haben? Siehst du etwa meine weissen Haare und meinen langen weissen Bart nicht?”

“Euer Haar und Euer Bart können täuschen”, antwortete ich ihm, “denn ich habe bereits viele Menschen mit Perücke und falschem Bart gesehen. Wie lautet doch gleich der Spruch?:

Letzendlich bist du was du bist
Auch wenn du eine Perücke mit tausend Locken,
Und deine Füsse auf hohen Absätzen trägst
Bleibst du dennoch was du bist,
Und du bist trozt allem Kind geblieben, deine Augen täuschen nicht.”

Der Greise strich sich über seine weissen Haare. “Wills Du mir etwa schmeicheln?” fragte er mich mit drohender Stimme und erhob den Stock, den er in seiner Hand trug, an dessen Ende ein goldener Ring, um den sich eine goldene Schlange wand.

Ich blieb bewegungslos an meinem Platz und antwortete ihm ruhig. “Mich könnt Ihr nicht einschüchtern. Ich habe nie gelernt, anderen zu schmeicheln, sondern nur die Wahrheit zu sagen, und Ihr seid der erste Mensche den ich treffe, der meine Wahrheit für eine Schmeichelei hält. Oft wollen die Menschen mich schlagen, weil ich die Wahrheit sage. Sie halten für Beleidigung, was Lob ist.”

“Dies zeigt, dass du dich zum Guten verändert hast”, sagte der Greis ruhiger geworden, und reichte mir die Hand. “Ich erkenne, dass Du kein Heuchler bist; auch hast du einen ehrlichen Blick. Verzeih mir also meinen Zorn und meine ablehnende Haltung.” Und während er meine Hand hielt und fest drückte, sah er hinter sich und rief laut: “Heran, heran, meine Tiere, meine Tiere, kommt schnell einen neuen lieben Gast zu empfangen.”

In jenem Augenblick tauchte in der Kaverne ein riesengrosser Adler auf; um seinen Hals schwang sich auch eine Schlange. Er setzte neben dem Greis und schmiegte sich an sein langes Gewand, während er mich neugierig betrachtete.

“Dieser junge Mann behauptet, dass mein langer Bart und meine weissen Haare nicht echt sind und meine Augen die Augen eines Kindes seien. Also ist Zarathustra nun zum Kind geworden. Sorge dafür, dass er in meiner Kaverne gut behandelt werde und dass es ihm gefalle; folglich wird er meine Dankbarkeit anerkennen müssen.”

“Das heisst also, Ihr seid Zarathustra?”, fragte ich ihn, “wie ist das möglich? Kürzlich sah ich ein Porträt von Euch, das dem spöttischen Antlitz des Mephisto ähnelte. Und warum bezeichnet Ihr mich als einen junten Mann? Seht Ihr nicht, dass in meinen schwarzen Haaren schon einige graue Strähnen schimmern?”

“Du hast mich mit deinen eigenen Waffen besiegt”, lachte Zarathustra, “Deine Haare täuschen, aber dein Blick ist ehrlich.”

Ich nahm erneut die Hand des alten Mannes, drückte sie fest und fragte ihn: “Könntet Ihr mir nicht zeigen, wie ich wieder zu einem Kind werden kann?”

Zarathustra legte seine rechte Hand auf meine Schulter: “Wie soll ich dich nennen?

“Ich liebe die Tugend, diese Tugend, welche die alten Griechen areté nannten und über welche Hesiod lehrt:
Die Götter setzen den Schweiss vor die Tugend
Ich suche Freunde, die wahre Freunde sein können, aber ich kann sie nicht finden. Ich finde nur einen Freund (filos, wie die Griehen sagen), und dieser Freund ist areté. Darum sollt ihr mich FILARETO nennen, den Freund der Tugend!”

Ich fühlte seine Hand immer schwerer auf meinem Haupt werden; da neigte der riesige Greis nieder und küsste mich auf die Stirn. Plötzlich rief er aus: “Aber deine Stirn ist ja eiskalt!”

“Das ist wahr. Wisst Ihr etwa nicht, dass ich tot gewesen bin?”

Dann nahm mich der alte Mann in seine Arme, um mich in seine Höhle zu tragen. Die Pflege, die mir Zarathustra und seine treuen Tiere angedeihen liessen, erweckten mich wieder zum Leben. So half er mir, wieder zum Kind zu werden. Nachdem ich, zum Kind geworden, diesen ersten Grad erreicht hatte, musste ich die Kaverne des Zarathustra verlassen, um mich in einer weniger günstigen Umgebung zu behaupten und abzuhärten. Da ich in der Kaverne des Zarathustra wieder zum Leben erweckt worden war betrachtete ich mich als seinen Sohn und übernahm folglich den Nachnamen KAVERNIDO.


Übersetzung aus dem IDO von Santiago Tovar

2018 – Aktualisiert 08-2021

Progreso, 1934

Nachruf und weitere Dokumente zu Kavernidos Tod

Soweit wir wissen, haben die Herausgeber der Ido-Zeitschrift PROGRESO in der Schweiz eine der ersten Nachrichten über die Ermordung Heinrich Goldbergs alias Filareto Kavernido im Jahre 1934 in Europa veröffentlicht. In der Nummer 99-100 (1-2), Februar-April 1934, Seite 36 heißt es:

Die Deutsche Übersetzung von Santiago Tovar:

Aus (der Stadt) Moca erreicht uns die Nachricht über den Tod von unserem glühenden Gesinnungsgenossen Dr. Goldberg, von zwei Unbekannten am Abend des 16. Mai 1933 ermordet. Dr. Goldberg wurde 52 Jahre alt. Er war einer der hervorragendsten Vertreter unserer Bewegung und widmete seine Existenz ganz der Verwirklichung seiner anarchistischen Ideale. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Chronik ein angemessenes Bild der Schaffenskraft des Freundes zu geben, der auf so tragische Weise verschwunden ist. Wir werden seinem Andenken in der folgenden Nummer der Zeitschrift Progreso ehren und einige der Artikel wieder abdrucken, die er unter dem Pseudonym Filareto Kavernido veröffentlicht hat. Sie alle bezeugen sein umfangreiches Wissen und den perfekten Stil, den er im schriftlichen IDO beherrschte. Er hinterläßt ein treues Andenken in den Herzen der vielen Mitkämpfer mit seinem Beispiel als tapferer Kämpfer, der für seine überzeugungen nicht nur zu leben, sondern auch zu leiden wußte.

Dieser Nachruf, 2003 im Internet gefunden, war der Anlaß, uns intensiver mit der Geschichte des Heinrich Goldberg zu beschäftigen. Ich selber kannte meinen Großvater ja nur aus Erzählungen meines Vaters, die insgesamt jedoch relativ wage waren, schließlich war mein Vater Vertuemo gerade einmal fünf Jahre alt, als seine Mutter Hannchen mit ihren fünf Kindern nach den Konflikten in der Kommune aus Südfrankreich zurück nach Berlin floh. Durchgängig war jedoch eine Prägung der Erinnerung meines Vaters durch die äußerts harte und autoritäre Erziehung meines exzentrischen Großvaters erkennbar. Glücklicherweise wurden diese frühen Kindheitserfahrungen jedoch durch die friedvolle und einfühlsame Erziehung der später alleinerziehenden Mutter relativiert. Somit wird auch verständlich, daß Vertuemo ohne Wehmut von einem geheimnisvollen Brief berichten konnte, den seine Mutter in Berlin erreichte, in dem sie vom Tode Heinrich Goldbergs in der Dominikanischen Republik informiert wurde. Leider ist dieser Brief verschollen, als Absender vermuten wir Mally Michaelis, Filaretos Lebensgefährtin in der Dominikanischen Republik. Er war lange Zeit der einzige Hinweis auf den Verbleib von Dr. Heinrich Goldberg. Bis Google eines Tages einen Nachruf in der Schweizer Zeitschrift „Progreso“ als Suchergebnis auswarf…

Später fand sich ein weiterer Brief von Mally Michaelis an E. Armand, den Herausgeber der französischen anarchistischen Zeitung „L’en Déhors“, datiert vom 28. Juli 1933. Mit der Absenderangabe „Señor Alcedo Rodriguez, Palo Blanco, Moca, Dominikanische Republik, (Rodriguez, selbst Großgrundbesitzer,  war der Verwalter der landwirtschaftlichen Kolonie, in der Filareto das Land für den eigenen Anbau bekommen hatte) schreibt Mally mit der Schreibmaschine in Französisch, so wie sie wohl zuvor zahlreiche Zeitungsartikel und Briefe nach Filaretos Diktat in die Maschine geschrieben hatte.

TG 2006 – Aktualisiert 05.2022

Cher Armand, comme je vous connais comme un des meilleurs amis de Filareto je ne veux et je ne peux plus hésiter à vous annoncer la mort de notre cher camarade. Plus pénible pour moi encore est de vous dire qu’il est mouru le 26 de mai par de coups de revolver de deux inconnus. Disons, les deux individus qui ont tiré sont inconnus. Le fait est le fin de machinations et intrigues terribles des types qui ont le courage de se nommer „anarchiste“. Je regrets beaucoup que vous n’avez pas recu, comme il me semble, ses dernièrs lettres, dans lesquelles il vous répétait nos expériences avec ces…(je ne peux pas écrire“hommes“) qui veullent chercher la liberté. Mais en vérité c’est libertinage et commaudité sans etre forcer travailler qu’ils veulent. Ils dezirent vivre avec la nature. Mais quand la nature leur offre leur beauté majestueuse, leur charme sans fin et leurs fruits ils ne reconnaissent rien de tout cela. Parce q’ils avaient revé de touver le paradis, meilleur dit, ils n’ont pensé à rien. Je crois qu’il y a un seul homme qui comprend ce que je vwux expliquer, c’est notre ami Pedro Prat qui a partagé avec nous autres ces expériences incomparables. Et j’ai vu que les types qui viennet des cercles dénommés „anarchistes“ sont plus maux encore que les autres qui proviennent de la classe bourgeoise et qui veulent, elle aussi aà leur tour, prouver une vie nouvelle et libre dans et avec la nature.J’avais hésiter de vous écrire jusqu’aujourd’hui parce’que j’avais espérer de pouvoir vous donner des détails plus exacts sur ce fait pour montrer à ces types leur vrai visage; mais ce n’est pas encore possible.

Je vous prie, si c’est possible, de vouloir bien continuer de m’envoyer votre journal qui m’intéresse, quoique je ne peux pas payer les frais sous l’adresse indiquée en bas.

En vous m’expliquant mes mercis je vous salue

Mally Michaelis

Die Übersetzung:

Lieber Armand, Da ich Sie als einen der besten Freunde Filaretos kenne, möchte ich keine weitere Zeit verstreichen lassen, ohne Ihnen den Tod unseres lieben Genossen mitzuteilen. Besonders traurig ist es für mich, Sie darüber zu informieren, dass er am 26. Mai durch die Revolverschüsse zweier Unbekannter getötet worden ist. Ich will damit sagen, dass die zwei Individuen, die geschossen haben, unbekannt sind. Das ist das Ergebnis der furchtbaren Machenschaften und Intrigen von Typen, die die Frechheit haben, sich “Anarchisten” zu nennen. Ich bedauere sehr, dass Sie, wie es scheint, seine letzten Briefe nicht erhalten haben, in welchen er Ihnen unsere Erfahrungen mit diesen…. (ich kann das Wort “Menschen” gar nicht schreiben), die angeblich die Freiheit suchen, wiederholt erzählte. Aber in Wirklichkeit streben sie ein zügelloses Leben und ihre eigene Bequemlichkeit an, ohne arbeiten zu müssen. Sie wollten mit der Natur leben. Aber wenn die Natur ihnen ihre majestätische Schönheit, ihren unendlichen Reiz und ihre Früchte bietet, sind sie unfähig, das zu erkennen. Sie hatten davon geträumt, das Paradies zu finden, aber in Wirklichkeit hatten sie nichts im Kopf. Ich glaube, es gibt nur einen Menschen, der versteht, was ich Ihnen verdeutlichen will, und das ist unser Freund Pedro Prat, der mit uns diese unvergleichlichen Erfahrungen geteilt hat. Und ich habe festgestellt, dass Individuen, die aus sogenannten “anarchistischen” Kreisen stammen, oft noch schlechter sind als manche, die aus der bürgerlichen Klasse kommen und welche auch, ihrerseits, eine neues und freies Leben in und mit der Natur erproben wollen.

Ich hatte gezögert, ehe ich an Sie schrieb, weil ich hoffte, Ihnen genauere Einzelheiten über diesen Tatbestand geben und das wahre Gesicht dieser Individuen zeigen zu können, aber dies ist noch nicht möglich.

Ich bitte Sie, wenn möglich, Ihre Zeitung, die mich interessiert, weiterhin an die angegebene Adresse zu senden, obwohl ich die Kosten nicht bezahlen kann.

Ich danke Ihnen und übersende meine Grüsse

Mally Michaelis

(Übersetzung Santiago Tovar)

Gerade einmal zwei Monate nach dem Tode ihres Lebensgefährten und Vater ihrer vier Kinder berichtet sie Armand von dem Tode ihres „lieben Kameraden“ im Sinne eines Kampfgenossen. Bezugnehmend auf einige Briefe Filaretos an Armand, die er laut Mally Michaelis wahrscheinlich nicht mehr erhalten habe, erwähnt sie große Streitigkeiten innerhalb der Gruppe der ausgewanderten Anarchisten und deutet an, daß, auch wenn sie die beiden Mörder nicht kenne, sie aus dem Lager der Siedler kämen. Ihr Schreibstil ist unter dem Aspekt einer möglichen Trauer unemotional, pathetisch verdammt sie dagegen diejenige Gruppe der Anarchisten, die offenbar Filaretos Askese und Härte, seinem Streben zu einem besseren Leben in Einheit mit der Natur, nicht folgen wollten; möglicherweise waren sie auch schlichtweg enttäuscht von den Realitäten, die sie im Gegensatz zu Filaretos blumigen Beschreibungen in seinen verschiedenen Zeitungsveröffentlichungen in der Dom. Republik tatsächlich vorfanden, nachdem sie zum Teil Hab und Gut aufgaben, um seinen Träumen einer anarchistischen Welt in einem Paradies zu folgen.Bezeichnend ist dabei die nüchterne und überlegte Haltung, die Mally in dieser Situation an den Tag legt. Unmittelbar nach dem Tode Filaretos muß sie das Leben für sich und die Kinder neu zu organisieren beginnen, bricht mit der Vergangenheit, vernichtet alle Hinweise auf die Vergangenheit und versucht, alle Spuren der Erinnerung bei den Kindern zu löschen. So bleibt für immer ungeklärt, wer die Mörder waren, so gingen zahlreiche Schriften Filaretos verloren, so wurde mündlich so gut wie nichts überliefert. Heute führt die Familie ein wohlhabendes Leben und ist weltweit verteilt. Als Mally schließlich 80 jährig stirbt, hinterläßt sie zahlreiche Enkel, von denen einige schon nichts mehr von der eigentlichen Familiengeschichte wissen.

Warum aber, wenn sie ihr Leben sofort nach dem Mord so derartig änderte, warum proklamiert sie dann zwei Monate nach Filaretos Tod noch so stark sein anarchistisches Gedankengut…

E. Armand kommentiert diesen Brief in einem Artikel seiner Zeitschrift wie folgt:

“Ein kurzer Brief aus Palo Blanco, in der Dominikanischen Republik, mit Datum 28. Juli, informiert uns dass der Dr. Goldberg – besser bekannt unter seinen Alias Filareto Kavernido – ist am 26. Mai zwei von „Unbekannten“ abgefeuerten Revolverschüssen erlegen. Man muss hier das Ergebnis, wie man uns versichert, von Machenschaften und Intriguen von sogenannten Anarchisten sehen, die „ihre Freiheit leben möchten, ohne arbeiten zu müssen“. Sie wünschen, wie dieser Brief noch berichtet, in der Natur zu sein, aber wenn die Natur ihnen ihre grossartiege Schönheit, ihren unendlichen Charme und ihere vorzüglichen Früchte bietet, verkennen sie sie. Diese Individuen, „die aus anarchistischen Kreisen stammen, sind schlimmer als die, die aus der Bourgeoisie kommen“, endet mit Bitterkeit der Brief. Und wir verstehen diese Bitterkeit. Die letzten Nachrichten von Kavernido, die im vorigen Blatt erschienen waren zeigten, dass in der „Kaverno di Zaratustra“ nicht alles zum Besten bestellt war, aber dass es zu diesem Drama kommen würde, von dem uns jetzt berichtet worden ist, war nicht abzusehen. Wir dürfen in jedem Falle den Rückgriff auf solche Gewalttätigkeit nicht gutheissen. Wenn jemandem die Umgebung, die er selbst nicht geschaffen hat, nicht passt, sollte er sie einfach verlassen…. und fertig. Gewiss, Filareto Kavernido hatte sehr eigenartige Ideen, und sein Kommunismus passte uns eigentlich nicht so richtig. Aber man kann ihm weder Beharrlichkeit noch zielgerichtete Aktivität abstreiten. Aus Berlin und seiner Umgebung war er mit seiner „Kaverno“ nach Tourrettes-sur-Loup, dann nach Korsika und schliesslich nach Santo Domingo umgezogen. Nichts hatte ihn entmutigt, weder die Austritte noch die Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten noch die Schikanen mit Behörden. Es ist an diesen Sachen, an denen man einen Menschen beurteilt, und nicht an einem mehr oder weniger gefälligen Zug seines Charakters. Fügen wir hinzu, dass Kavernido die Ido Sprache mit Vollkommenheit beherrschte, dass er mit den Ido-Zeitschriften aktiv zusammengearbeitet hat, indem er Analysen und Artikel geschickt hat, die, wenn vielleicht nicht für den Geschmack von jedermann, immer interessant waren.“

Der Nachruf, der auf einem unbekanntem Brief basiert, wirft die neue Frage auf, ob die Mörder aus den eigenen Reihen kamen, ob enttäuschte ehemalige Mitglieder der Gruppe die unbekannten Täter waren. Nun sieht man bei E. Armand, wie wenig Zuneigung er für Filareto, mit dem er jahrelang in Kontakt, Zusammenarbeit und Streit gewesen war, empfand. Wie scharf einige ihrer Diskussionen gewesen sein mögen, können wir jetzt nur annehmen. Aber bei der ganzen Sache ging es um die Berechtigung der Theorie und Praxis des anarchistischen Lebens und um das Leben von Kameraden, die dem Ruf von Kolonien wie der Kaverno folgend, ihre ganze Existenz, mit Hab und Gut, aufs Spiel setzten. Alles gaben sie auf, sie wanderten mit ihrer Familie aus und oft genug erlebten sie eine schlimme Enttäuschung. Deutet E. Armand deswegen an, dass Filareto so starke Agressionen bei manchen seiner eigenen Kameraden erweckt haben mag, dass diese dazu kamen, ihn zu ermorden? Das können wir hier nicht klären. Jedenfalls taucht hier eine neue, furchtbare Variante der Beweggründe auf, die zur Ermordung Filaretos führten.

Infos zum Artikel

Zeitung: Progreso
Erscheinungsdatum: Februar/April 1934
Nummer: unbekannt
Autor: Herausgeber von Progreso
Überschrift: keine
Thema: Nachruf auf Filareto Kavernido

L’en Dehors, August 1933, No 260-261, Jg 12

La Kaverno di Zaratustra

Der Artikel richtet sich an den Herausgeber der Zeitschrift L’en Dehors E. Armand. Er ist datiert mit dem 21.März 1933 und ist somit einer der letzten Berichte von Filareto Kavernido vor seinem Tod.

Infos zum Artikel

Zeitung: L’en Dehors
Nummer: 260-261
Erstellungsdatum: 21. März 1933
Erscheinungsdatum: August 1933
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: La Kaverno di Zaratustra
Thema: Der Artikel richtet sich an den Herausgeber der Zeitschrift L’en Dehors E. Armand. Er ist datiert mit dem 21.März 1933 und ist somit einer der letzten Berichte von Filareto Kavernido vor seinem Tod.

L’en Dehors, Juni 1927, No 110-111

La caverne de Zarathoustra

Fünfhundert Meter über dem Mittelmeer, -das uns seine blaue Küste von Menton bis Cannes zeigt und die italienischen Ufer und Corsica im Hintergrund entfaltet, – haben wir 700 Hektar nahezu jungfräuliches Gelände entdeckt. Auf diesem Gelände ist ein Sanatorium errichtet, das einen Ackerboden der besten vorstellbaren Qualität und zahlreiche Rinder, Pferde, Schafe, Schweine, Hühner, Esel und andere Haustiere besitzt; außerdem ein großes und ein kleines Haus und zwei Schafsweiden mitten zwischen den Gebüsch der Berge.

Alles dies, – Gelände, Tiere, Gebäude – wurde uns gegeben, um es in Stand zu setzen, unter der Maßgabe, die Hälfte der erträge an das Sanatorium abzuführen. das erste Jahr hatten wir viel Mühe, das Gelände von dem Gebüsch zu befreien, Terrassen anzulegen, den Ochsen das vernünftige Arbeiten beizubringen und den Boden von den Steinen zu befreien; daher haben wir im ersten Jahr nur zwei Zehntel bezahlt, acht Zehntel blieben für uns; im zweiten Jahr werden wir sieben Zehntel bezahlen, im Dritten sechs Zehntel, und es wird erst im vierten Jahr sein, in dem wir die vereinbarte Hälfte ausschütten. Das Sanatorium übernimmt die Kosten für Baumaterial, Pflanzen und Obstbäume.

Im Moment sind wir zehn Erwachsene und ein Kind. Zehn weitere Erwachsene und zwei Kinder werden sich uns anschließen, sobald die Genehmigung der Behörden eingetroffen ist. Denn wir sind in Deutschland geboren, und der Krieg zwischen den Franzosen und den Deutschen ist noch nicht zu Ende. Man kann gut verstehen, daß wir schon einige Schwierigkeiten mit den Nachbarn hatten, auch wenn der nächste in fünf Kilometern lebt. Aber das Schlimmste waren die Arbeiter des Sanatoriums, große Weintrinker und sorglos im Umgang mit den Tieren und der Arbeit, die loszogen um im ganzen Land zu erzählen, die Deutschen hätten Frankreich besetzt, so daß der Polizeikommissar, der stellvertretende Präfekt und andere offizielle Personen kamen um die Gefahr zu untersuchen, die unsere Anwesenheit für die Freiheit Frankreichs darstellt. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist schließlich, daß die Höhle des Zarathustra“ als anarcho-kommunistische und religiöse Sekte anerkannt wurde und man uns in dieser Höhe nach unserem Gutdünken leben ließ.

Eines Morgens um sechs Uhr kamen mehrere Arbeiter des Sanatorium zu Pferde, um mir einen Brief vom Büro zu überbringen. Ich war nackt (wir sind das immer, wenn es das Wetter zulässt), und, wie ich war, begab ich mich zum Treffpunkt mit dem Boten, erstaunt, ihn dort zu dieser frühen Stunde zu sehen. Einige Tage später tauchten zwei Polizisten auf, die mir mitteilten, daß man mich anklage, den öffentlichen Anstand zu verletzen. Ich erklärte, daß es wahr sei, daß wir hier zu Hause seien und ich dächte hier, in dieser absoluten Einsamkeit, könnten wir niemanden beeinträchtigen. Während ich mich mit ihnen unterhielt, liefen unsere Kinder, nackt, vom Haus zum Brunnen oder zum Stall. Die Polizisten, besonders der Jüngere, betrachteten ihre nackten Körper, grazil und sonnengebräunt, und sie gaben zu, daß diese Lebensart kein Anstandsgefühl verletzen könne. Ich habe nie wieder ein Wort über dieses schwere Delikt gehört.

Die Arbeit ist auf die Art und Weise organisiert, daß die Arbeiter sich in kleine autonome Gruppen aufteilen, die alle ihre eigenen Bereiche haben. So kümmern sich die Einen um die Pferde und den Transport der Waren aus dem Tal, während die Anderen sich um das Vieh kümmern; andere schließlich kultivieren den Garten. Die Zusammenarbeit all dieser Gruppen ist die Garantie für das gemeinsame Mal, in deren Verlauf wir uns mit allem auseinander setzen, was uns interessiert.

Hier ist es nun also für 200 Personen möglich, die ethische Grundlage des Anarcho- Kommunismus bis in die Einzelheiten zu verwirklichen. Wir arbeiten mit unseren eigenen Kräften, wir beschäftigen keinen bezahlten Arbeiter. Auf der anderen Seite nehmen wir niemanden auf oder weisen keinen ab, wir sehen uns nicht als Führer, die das Recht besitzen, aufzunehmen oder abzuweisen. Wer mit uns leben und bauen will, kann kommen, er wird zu Hause sein – aber natürlich können wir es Personen mit anderen Ideen als den unsrigen nicht erlauben, zu uns zu kommen, um unsere Arbeit zu zerstören. Wir hoffen, daß viele Kameraden kommen werden, um uns zu helfen, aber wir sind sicher, daß unser Werk nicht untergehen wird; die Generation unserer Kinder garantiert das Wachstum unserer neuen Umgebung; und tatsächlich, Zehn unserer Kleinen haben in unserer „Kaverne“ bereits das Tageslicht erblickt.

Wir haben die besten Maschinen, die Kraft der großen und kleinen Tiere, und alle Möglichkeiten, um in kurzer Zeit 200 Personen zu beschäftigen, wenn wir momentan 20 fänden, um die Bedingungen für die anderen vorzubereiten. Die einzige Bedingung, die an die Zusammenarbeit mit uns geknüpft ist es, mit uns streng nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus zu leben.

Wir sind keiner Revolutionäre und keine Spinner (révoltés -umgedrehten), im üblichen Sinne der Wörter. Wir haben keine Zeit, auf die Revolution zu warten, um ein neues Leben zu beginnen, da die Revolution eine Sache der persönlichen Einstellung ist, oder die Politk hat damit nichts zu tun. Ohne Zweifel: ich erkenne an, daß der Mensch das Recht hat, sich den Pflichten zu widersetzen, die ihm die Gesellschaft auferlegt, aber in diesem Falle stellt er sich außerhalb der sozialen Gemeinschaft und hat nicht mehr das Recht, irgendetwas für sich zu reklamieren. Als Anarchist aber bin ich gezwungen, das Recht des Anderen anzuerkennen, nach seiner Lebenskonstruktion zu funktionieren; grundsätzlich muß ich das Recht des Funktionierens eines organischen und sich entwickelnden Lebens anerkennen, so wie es auch das bourgeoise Leben ist. Was mich betrifft, habe ich sicher das Recht, diese Gesellschaft zu verlassen und mir mein eigenes Leben neben ihr aufzubauen; nur muß ich stark genug sein, meine besondere Form wahren zu können.

Nach acht Jahren hat die „Kaverno di Zarathustra“ ihre Stärke bewiesen, und wenn wir Unterstützung finden, können wir all jenen helfen, die die bürgerliche Gesellschaft verlassen wollen. Sie besteht bereits aus zwei Gruppen, die eine arbeitet in Deutschland, die andere hier. Bei Berlin beschäftigen wir uns mit Gemüseanbau, hier im Süden Frankreichs betreiben wir großflächigen Anbau, kombiniert mit Gartenbau und Viehzucht, so daß wir Kameraden aus allen Bereichen brauchen. Das Gelände ist ein wahres Paradies, sowohl in der Schönheit des Panoramas und der Klarheit der Luft als auch in der Ursprünglichkeit unseres Lebens….

FILARETO KAVERNIDO

Gruppe Le Villars, aus Tourrettes-sur Loup (Var.) – 2. Mai 1927 – als Ergänzung zu dem von mir vor sechs Monaten geschriebenen obigen Text, füge ich an: Der Vertrag mit dem Sanatorium kann nicht legal weitergeführt werden, da das Gericht eine Voruntersuchung eingeleitet hat zum Sachverhalt des Tatbestandes der Störung der öffentlichen Ordnung. Daher ist unser Aufenthalt in Frankreich nur vorläufig: selbst wenn wir nur zu einer Strafe von einem Franc verurteilt werden, werden wir automatisch sofort ausgewiesen. Somit ist es uns nicht möglich, den Vertrag fortzuführen. Trotzdem leben wir in unserem Paradies nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus. Unserer Gruppe setzt sich zusammen aus 8 Männern (4 Deutsche, 2 Bulgaren, ein Tscheche und ein Franzose) 4 Frauen und 18 Kindern, von denen zwei  hier das Licht der Welt erblickt haben. Wir arbeiten für das Sanatorium, kümmern uns um das Vieh, arbeiten in der Küche, im Garten, erledigen Besorgungen etc. Zur gleichen Zeit betreiben wir Gartenbau für uns, wir züchten verschieden Tiere (Schafe, Hühner, Kaninchen). Die Untersuchung dauert weiterhin an, man läßt uns in Ruhe leben, aber die Behörden verweigerten sechs Mitstreitern aus Berlin, sich uns anzuschließen. Dies ist nicht eine Maßnahme gegen unsere Kolonie, dies ist eine Folge der allgemeinen Ausländerpolitik. Keine Schwierigkeiten also, sich uns anzuschließen, wenn man die Möglichkeit hat, nach Frankreich zu kommen.

FILARETO KAVERNIDO

Dieser Artikel erschien 1927 in IDO in der Zeitschrift „L’en Dehors“

Übersetzung aus IDO in die Französische Sprache durch L’en Dehors

Übersetzung ins Deutsche: Tobias Gloger

Infos zum Artikel

Zeitung: L’en Dehors
Erscheinungsdatum: Juni 1927
Nummer: 110-111
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: La caverne de Zarathoustra
Thema: Kavernido berichtet über die Kommune im Sanatorium von Tourettes-sur Loup

Libereso Nr. 17, Juli 1925, Seiten 59-60

Freiheit

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Von Filareto Kavernido

Hin und wieder ist es nötig, sich zu fragen, was wir unter Freiheit verstehen. Manche denken, dass man nur frei ist, wenn man wie ein Vogel gen Himmel fliegen kann, andere wiederum sind bescheidener und fühlen sich bereits frei wenn sie mal Morgens den Mut finden, nicht zur Arbeit zu gehen und, mangels einer befriedigenden Entschuldigung, einfach im Bett liegen bleiben. Neulich fragte ich einen Kameraden, ob er beim Aufbau der neuen Gesellschaft hier und jetzt, nämlich der Kaverno di Zaratustra, helfen wollte, worauf er antwortete: „Wofür? Bin ich nicht etwa viel freier in dieser kapitalistischen Gesellschaft als in eurer mickrigen Organisation? Ich habe genug Geld, um mir meine Zigaretten, auf die ich auf keinen Fall verzichten will, zu kaufen; ich kann ins Theater oder ins Konzert gehen, wann immer mir nach einem solchen Vergnügen ist und ich meinen Geist erbauen will, und ich habe die Möglichkeit, meine Freizeit dazu zu nutzen, das zu lernen, was ich für meine persönliche Entwicklung brauche. Also wie könnte ich all diese Vorteile geniessen, wenn ich bei Eurer „Kaverno“ mitmachen würde?“

Wir haben keine andere Wahl als ihn zu bestätigen, dass es stimmt, dass all diese Dinge für uns “Kavernarien“ unmöglich sind, dass wir nicht genug Geld haben, um alle Wünsche jedes Einzelnen zu erfüllen; dass wir bis zur letzten Münze von unseren knappen Mitteln für die Erziehung unserer Kinder und für den Aufbau der Landkommunen und der Werkstätten in der Stadt benötigen. Worauf er lächelnd, ja sogar sich über uns lustig machend, uns den Rücken kehrt, um seine Freiheit nicht zu verlieren. Ich aber frage: Wer ist freier? Derjenige, der sein persönliches Leben gemäss seinen Wünschen leben kann oder wir, die wir mit Freude und Glück auf all diese Wünsche verzichten können, um unser Leben auf einen neuen Kulturstand zu heben?

Für mich bedeutet das Wort “Freiheit”, dass ich jederzeit dem Ruf meines Werkes, wann immer ich gebraucht werde, folgen kann. Neulich erhielt ich ein Telegramm, in welchem man mir mitteilte, dass die Düsseldorfer Regierung in einer bestimmten Sache mit mir direkt verhandlen wollte, und eine halbe Stunde später sass ich im Wagonabteil auf dem Weg zu meinem Ziel. Ich brauche kein anderes Gepäck als ein wenig zum Essen für die zwölfstündige Fahrt. Fahre von Berlin nach Düsseldorf oder Wien, so finde ich dort alles was ich brauche, als wäre ich zuhause in den Kommunen unserer Organisation, genauso wie in Berlin. Das ist, was ich Freiheit nenne. Ich kann jede Einschränkung ertragen, sei es meines eigenen Konforts, meiner Kleidung oder meines Magens, oder auch des Respekts anderer Leute, nur nicht die Achtung vor meinen Brüdern.

Darum stimmt mein Begriff der Freiheit mit dem von Marguerite Desprès überein, deren Ideen über die freie Liebe wir in der Nr. 14 unserer Zeitung gelesen haben. Dennoch besteht ein grosser Unterschied zwischen uns beiden. Denn für diese Kameradin besteht die Folge des freien Lebens darin, dass man für die materiellen Nöte der Kinder und Alten aller Proletarier Sorge tragen muss (freilich in ihrem Fall etwas gemildert dadurch, dass sie die Freundschaft mit Freunden aus der früheren Zeit pflegt und durch die Erinnerung an ein im allgemeinen angenehmes Leben, wie jeder Bourgeois es führt… ???) während ich von Brüdern und Kameraden umgeben bin und mein Leben in einem Milieu führe, in welchem diese Freiheit, von der ich gerade rede, bereits an die gemeinsame Befriedigung unserer ökonomischen und ästhetischen Bedürfnisse gebunden ist, und die Freiheit nur durch diese Bindung selbst vollkommen sein kann.

Daher komme ich zu folgendem Schluss: die wahre Freiheit kann nur da bestehen, wo der Einzelne an eine Kommune gebunden ist so, dass er seine Identität vollständig mit der der Kommune verbindet. Dann ist der Lebensprozess der Kommune der Lebensprozess des Einzelnen aber in einer dermassen breiteren Form, dass der Einzelne in diesem harmonischen Milieu das Gefühl hat zu schwimmen; diese Umgebung befreit ihn von der Schwerekraft so, dass der Einzelne die Illusion hegen kann, dass nur Hindernisse ausserhalb dieses Milieus ihn behindern können. Je breiter diese Kommune also wird, desto breiter wird das Meer sein, in dem sich der Einzelne ohne hindernisse bewegen kann.

Darum helft uns, die bereits bestehende Kommune, La Kaverno di Zaratustra zu entwickeln, damit sie uns die Bewegungsfreiheit der ganzen Menscheit gibt, und dadurch die wahre Freiheit geschaffen wird.

Übersetzung Ido von Santiago Tovar, Madrid

Infos zum Artikel

Zeitung: Libereso
Erscheinungsdatum: Juli 1925
Nummer: 17
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift:
Thema:

Libereso, Nr. 15, August 1924
Filareto Kavernido zu den Ido-Namen der Kinder in der Kommune. Lebendige Werbung der Ido-Sprache

Vivanta Ido propagili

Übersetzung

Lebende Werbeträger des IDO
Bis jetzt wurden in der Kaverno di Zaratustra fünf Kinder geboren, die in verschiedenen Standesämtern unter folgenden Namen eingetragen worden sind: Vertuemo, Joyigemo, Sajero (das r ist ein Schreibfehler des Beamten gewesen, wahrscheinlich anstatt eines s. -die Red.), Veremino und Esperoza. Immer, wenn jemand diese Namen hört, wird er fragen, was sie bedeuten und eine Lektion über die Weltsprache über sich ergehen lassen müssen. So haben wir also eine lebendige Werbung der Ido-Sprache geschaffen!

Deutsche Übersetzung: Santiago Tovar

Infos zum Artikel

Zeitung: Libereso
Erscheinungsdatum: August 1924
Nummer: 15
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: Vivanta Ido propagili
Thema: Filareto Kavernido zu den Ido-Namen der Kinder in der Kommune. Lebendige Werbung der Ido-Sprache