Libereso Nr. 17, Juli 1925, Seiten 59-60

Freiheit

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Von Filareto Kavernido

Hin und wieder ist es nötig, sich zu fragen, was wir unter Freiheit verstehen. Manche denken, dass man nur frei ist, wenn man wie ein Vogel gen Himmel fliegen kann, andere wiederum sind bescheidener und fühlen sich bereits frei wenn sie mal Morgens den Mut finden, nicht zur Arbeit zu gehen und, mangels einer befriedigenden Entschuldigung, einfach im Bett liegen bleiben. Neulich fragte ich einen Kameraden, ob er beim Aufbau der neuen Gesellschaft hier und jetzt, nämlich der Kaverno di Zaratustra, helfen wollte, worauf er antwortete: „Wofür? Bin ich nicht etwa viel freier in dieser kapitalistischen Gesellschaft als in eurer mickrigen Organisation? Ich habe genug Geld, um mir meine Zigaretten, auf die ich auf keinen Fall verzichten will, zu kaufen; ich kann ins Theater oder ins Konzert gehen, wann immer mir nach einem solchen Vergnügen ist und ich meinen Geist erbauen will, und ich habe die Möglichkeit, meine Freizeit dazu zu nutzen, das zu lernen, was ich für meine persönliche Entwicklung brauche. Also wie könnte ich all diese Vorteile geniessen, wenn ich bei Eurer „Kaverno“ mitmachen würde?“

Wir haben keine andere Wahl als ihn zu bestätigen, dass es stimmt, dass all diese Dinge für uns “Kavernarien“ unmöglich sind, dass wir nicht genug Geld haben, um alle Wünsche jedes Einzelnen zu erfüllen; dass wir bis zur letzten Münze von unseren knappen Mitteln für die Erziehung unserer Kinder und für den Aufbau der Landkommunen und der Werkstätten in der Stadt benötigen. Worauf er lächelnd, ja sogar sich über uns lustig machend, uns den Rücken kehrt, um seine Freiheit nicht zu verlieren. Ich aber frage: Wer ist freier? Derjenige, der sein persönliches Leben gemäss seinen Wünschen leben kann oder wir, die wir mit Freude und Glück auf all diese Wünsche verzichten können, um unser Leben auf einen neuen Kulturstand zu heben?

Für mich bedeutet das Wort “Freiheit”, dass ich jederzeit dem Ruf meines Werkes, wann immer ich gebraucht werde, folgen kann. Neulich erhielt ich ein Telegramm, in welchem man mir mitteilte, dass die Düsseldorfer Regierung in einer bestimmten Sache mit mir direkt verhandlen wollte, und eine halbe Stunde später sass ich im Wagonabteil auf dem Weg zu meinem Ziel. Ich brauche kein anderes Gepäck als ein wenig zum Essen für die zwölfstündige Fahrt. Fahre von Berlin nach Düsseldorf oder Wien, so finde ich dort alles was ich brauche, als wäre ich zuhause in den Kommunen unserer Organisation, genauso wie in Berlin. Das ist, was ich Freiheit nenne. Ich kann jede Einschränkung ertragen, sei es meines eigenen Konforts, meiner Kleidung oder meines Magens, oder auch des Respekts anderer Leute, nur nicht die Achtung vor meinen Brüdern.

Darum stimmt mein Begriff der Freiheit mit dem von Marguerite Desprès überein, deren Ideen über die freie Liebe wir in der Nr. 14 unserer Zeitung gelesen haben. Dennoch besteht ein grosser Unterschied zwischen uns beiden. Denn für diese Kameradin besteht die Folge des freien Lebens darin, dass man für die materiellen Nöte der Kinder und Alten aller Proletarier Sorge tragen muss (freilich in ihrem Fall etwas gemildert dadurch, dass sie die Freundschaft mit Freunden aus der früheren Zeit pflegt und durch die Erinnerung an ein im allgemeinen angenehmes Leben, wie jeder Bourgeois es führt… ???) während ich von Brüdern und Kameraden umgeben bin und mein Leben in einem Milieu führe, in welchem diese Freiheit, von der ich gerade rede, bereits an die gemeinsame Befriedigung unserer ökonomischen und ästhetischen Bedürfnisse gebunden ist, und die Freiheit nur durch diese Bindung selbst vollkommen sein kann.

Daher komme ich zu folgendem Schluss: die wahre Freiheit kann nur da bestehen, wo der Einzelne an eine Kommune gebunden ist so, dass er seine Identität vollständig mit der der Kommune verbindet. Dann ist der Lebensprozess der Kommune der Lebensprozess des Einzelnen aber in einer dermassen breiteren Form, dass der Einzelne in diesem harmonischen Milieu das Gefühl hat zu schwimmen; diese Umgebung befreit ihn von der Schwerekraft so, dass der Einzelne die Illusion hegen kann, dass nur Hindernisse ausserhalb dieses Milieus ihn behindern können. Je breiter diese Kommune also wird, desto breiter wird das Meer sein, in dem sich der Einzelne ohne hindernisse bewegen kann.

Darum helft uns, die bereits bestehende Kommune, La Kaverno di Zaratustra zu entwickeln, damit sie uns die Bewegungsfreiheit der ganzen Menscheit gibt, und dadurch die wahre Freiheit geschaffen wird.

Übersetzung Ido von Santiago Tovar, Madrid

Infos zum Artikel

Zeitung: Libereso
Erscheinungsdatum: Juli 1925
Nummer: 17
Autor: Filareto Kavernido
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