Nachruf und weitere Dokumente zu Kavernidos Tod
Soweit wir wissen, haben die Herausgeber der Ido-Zeitschrift PROGRESO in der Schweiz eine der ersten Nachrichten über die Ermordung Heinrich Goldbergs alias Filareto Kavernido im Jahre 1933 in Europa veröffentlicht. Darin heißt es:
Die Deutsche Übersetzung von Santiago Tovar:
Aus (der Stadt) Moca erreicht uns die Nachricht über den Tod von unserem glühenden Gesinnungsgenossen Dr. Goldberg, von zwei Unbekannten am Abend des 16. Mai 1933 ermordet. Dr. Goldberg wurde 52 Jahre alt. Er war einer der hervorragendsten Vertreter unserer Bewegung und widmete seine Existenz ganz der Verwirklichung seiner anarchistischen Ideale. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Chronik ein angemessenes Bild der Schaffenskraft des Freundes zu geben, der auf so tragische Weise verschwunden ist. Wir werden seinem Andenken in der folgenden Nummer der Zeitschrift Progreso ehren und einige der Artikel wieder abdrucken, die er unter dem Pseudonym Filareto Kavernido veröffentlicht hat. Sie alle bezeugen sein umfangreiches Wissen und den perfekten Stil, den er im schriftlichen IDO beherrschte. Er hinterläßt ein treues Andenken in den Herzen der vielen Mitkämpfer mit seinem Beispiel als tapferer Kämpfer, der für seine überzeugungen nicht nur zu leben, sondern auch zu leiden wußte.
Dieser Nachruf, 2003 im Internet gefunden, war der Anlaß, uns intensiver mit der Geschichte des Heinrich Goldberg zu beschäftigen. Ich selber kannte meinen Großvater ja nur aus Erzählungen meines Vaters, die insgesamt jedoch relativ wage waren, schließlich war mein Vater Vertuemo gerade einmal fünf Jahre alt, als seine Mutter Hannchen mit ihren fünf Kindern nach den Konflikten in der Kommune aus Südfrankreich zurück nach Berlin floh. Durchgängig war jedoch eine Prägung der Erinnerung meines Vaters durch die äußerts harte und autoritäre Erziehung meines exzentrischen Großvaters erkennbar. Glücklicherweise wurden diese frühen Kindheitserfahrungen jedoch durch die friedvolle und einfühlsame Erziehung der später alleinerziehenden Mutter relativiert. Somit wird auch verständlich, daß Vertuemo ohne Wehmut von einem geheimnisvollen Brief (oder vielleicht Postkarte) berichten konnte, den seine Mutter in Berlin erreichte, in dem sie vom Tode Heinrich Goldbergs in der Dominikanischen Republik informiert wurde. Leider ist dieser Brief oder Postkarte verschollen, als Absender vermuten wir Mally Michaelis, Filaretos Lebensgefährtin in der Dominikanischen Republik. Er war lange Zeit der einzige Hinweis auf den Verbleib von Dr. Heinrich Goldberg. Bis Google eines Tages einen Nachruf in der Schweizer Zeitschrift „Progreso“ als Suchergebnis auswarf…
Später fand sich ein weiterer Brief von Mally Michaelis an E. Armand, den Herausgeber der französischen anarchistischen Zeitung „L’en Déhors“, datiert vom 28. Juli 1933. Mit der Absenderangabe „Señor Alcedo Rodríguez, Palo Blanco, Moca, Dominikanische Republik, (Rodríguez Grundbesitzer und ausserdem Staatsverwalter der Landgüter, in denen Filareto sein Stück gepachtet hatte) schreibt Mally mit der Schreibmaschine in Französisch, so wie sie wohl zuvor zahlreiche Zeitungsartikel und Briefe nach Filaretos Diktat in die Maschine geschrieben hatte.
Je vous prie, si c’est possible, de vouloir bien continuer de m’envoyer votre journal qui m’intéresse, quoique je ne peux pas payer les frais sous l’adresse indiquée en bas.
En vous m’expliquant mes mercis je vous salue
Mally Michaelis
Die Übersetzung:
Lieber Armand,Da ich weiss, dass Sie einer der besten Freunde Filaretos sind, möchte ich keine weitere Zeit verstreichen lassen, ohne Ihnen den Tod unseres lieben Genossen mitzuteilen. Besonders traurig ist es für mich, Sie darüber zu informieren, dass er am 26. Mai durch die Revolverschüsse zweier Unbekannter getötet worden ist. Ich will damit sagen, dass die zwei Individuen, die geschossen haben, unbekannt sind. Das ist das Ergebnis der furchtbaren Machenschaften und Intrigen von Typen, die die Frechheit haben, sich “Anarchisten” zu nennen. Ich bedauere sehr, dass Sie, wie es scheint, seine letzten Briefe nicht erhalten haben, in welchen er Ihnen unsere Erfahrungen mit diesen…. (ich kann das Wort “Menschen” gar nicht schreiben), die angeblich die Freiheit suchen, wiederholt erzählte. Aber in Wirklichkeit streben sie ein zügelloses Leben und ihre eigene Bequemlichkeit an, ohne arbeiten zu müssen. Sie wollten mit der Natur leben. Aber wenn die Natur ihnen ihre majestätische Schönheit, ihren unendlichen Reiz und ihre Früchte bietet, sind sie unfähig, das zu erkennen. Sie hatten davon geträumt, das Paradies zu finden, aber in Wirklichkeit hatten sie nichts im Kopf. Ich glaube, es gibt nur einen Menschen, der versteht, was ich Ihnen verdeutlichen will, und das ist unser Freund Pedro Prat, der mit uns diese unvergleichlichen Erfahrungen geteilt hat. Und ich habe festgestellt, dass Individuen, die aus sogenannten “anarchistischen” Kreisen stammen, oft noch schlechter sind als manche, die aus der bürgerlichen Klasse kommen und welche auch, ihrerseits, eine neues und freies Leben in und mit der Natur erproben wollen.
Ich hatte gezögert, ehe ich an Sie schrieb, weil ich hoffte, Ihnen genauere Einzelheiten über diesen Tatbestand geben und das wahre Gesicht dieser Individuen zeigen zu können, aber dies ist noch nicht möglich.
Ich bitte Sie, wenn möglich, Ihre Zeitung, die mich interessiert, weiterhin an die angegebene Adresse zu senden, obwohl ich die Kosten nicht bezahlen kann.
Ich danke Ihnen und übersende meine Grüsse
Mally Michaelis
(Übersetzung Santiago Tovar)
Gerade einmal zwei Monate nach dem Tode ihres Lebensgefährten und Vater ihrer vier Kinder berichtet sie Armand von dem Tode ihres „lieben Kameraden“ im Sinne eines Kampfgenossen. Bezugnehmend auf einige Briefe Filaretos an Armand, die er laut Mally Michaelis wahrscheinlich nicht mehr erhalten habe, erwähnt sie große Streitigkeiten innerhalb der Gruppe der ausgewanderten Anarchisten und deutet an, daß, auch wenn sie die beiden Mörder nicht kenne, sie aus dem Lager der Siedler kämen. Ihr Schreibstil ist unter dem Aspekt einer möglichen Trauer unemotional, pathetisch verdammt sie dagegen diejenige Gruppe der Anarchisten, die offenbar Filaretos Askese und Härte, seinem Streben zu einem besseren Leben in Einheit mit der Natur, nicht folgen wollten; möglicherweise waren sie auch schlichtweg enttäuscht von den Realitäten, die sie im Gegensatz zu Filaretos blumigen Beschreibungen in seinen verschiedenen Zeitungsveröffentlichungen in der Dom. Republik tatsächlich vorfanden, nachdem sie zum Teil Hab und Gut aufgaben, um seinen Träumen einer anarchistischen Welt in einem Paradies zu folgen.Bezeichnend ist dabei die nüchterne und überlegte Haltung, die Mally in dieser Situation an den Tag legt. Unmittelbar nach dem Tode Filaretos muß sie das Leben für sich und die Kinder neu zu organisieren beginnen, bricht mit der Vergangenheit, vernichtet alle Hinweise auf die Vergangenheit und versucht, alle Spuren der Erinnerung bei den Kindern zu löschen. So bleibt für immer ungeklärt, wer die Mörder waren, so gingen zahlreiche Schriften Filaretos verloren, so wurde mündlich so gut wie nichts überliefert. Heute führt die Familie ein wohlhabendes Leben und ist weltweit verteilt. Als Mally schließlich 80 jährig stirbt, hinterläßt sie zahlreiche Enkel, von denen einige schon nichts mehr von der eigentlichen Familiengeschichte wissen.
Warum aber, wenn sie ihr Leben sofort nach dem Mord so derartig änderte, warum proklamiert sie dann zwei Monate nach Filaretos Tod noch so stark sein anarchistisches Gedankengut…
E. Armand kommentiert diesen Brief in einem Artikel seiner Zeitschrift wie folgt:
“Ein kurzer Brief aus Palo Blanco, in der Dominikanischen Republik, mit Datum 28. Juli, informiert uns dass der Dr. Goldberg – besser bekannt unter seinen Alias Filareto Kavernido – ist am 26. Mai zwei von „Unbekannten“ abgefeuerten Revolverschüssen erlegen. Man muss hier das Ergebnis, wie man uns versichert, von Machenschaften und Intriguen von sogenannten Anarchisten sehen, die „ihre Freiheit leben möchten, ohne arbeiten zu müssen“. Sie wünschen, wie dieser Brief noch berichtet, in der Natur zu sein, aber wenn die Natur ihnen ihre grossartiege Schönheit, ihren unendlichen Charme und ihere vorzüglichen Früchte bietet, verkennen sie sie. Diese Individuen, „die aus anarchistischen Kreisen stammen, sind schlimmer als die, die aus der Bourgeoisie kommen“, endet mit Bitterkeit der Brief. Und wir verstehen diese Bitterkeit. Die letzten Nachrichten von Kavernido, die im vorigen Blatt erschienen waren zeigten, dass in der „Kaverno di Zaratustra“ nicht alles zum Besten bestellt war, aber dass es zu diesem Drama kommen würde, von dem uns jetzt berichtet worden ist, war nicht abzusehen. Wir dürfen in jedem Falle den Rückgriff auf solche Gewalttätigkeit nicht gutheissen. Wenn jemandem die Umgebung, die er selbst nicht geschaffen hat, nicht passt, sollte er sie einfach verlassen…. und fertig. Gewiss, Filareto Kavernido hatte sehr eigenartige Ideen, und sein Kommunismus passte uns eigentlich nicht so richtig. Aber man kann ihm weder Beharrlichkeit noch zielgerichtete Aktivität abstreiten. Aus Berlin und seiner Umgebung war er mit seiner „Kaverno“ nach Tourrettes-sur-Loup, dann nach Korsika und schliesslich nach Santo Domingo umgezogen. Nichts hatte ihn entmutigt, weder die Austritte noch die Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten noch die Schikanen mit Behörden. Es ist an diesen Sachen, an denen man einen Menschen beurteilt, und nicht an einem mehr oder weniger gefälligen Zug seines Charakters. Fügen wir hinzu, dass Kavernido die Ido Sprache mit Vollkommenheit beherrschte, dass er mit den Ido-Zeitschriften aktiv zusammengearbeitet hat, indem er Analysen und Artikel geschickt hat, die, wenn vielleicht nicht für den Geschmack von jedermann, immer interessant waren.“
Der Nachruf, der auf einem unbekanntem Brief basiert, wirft die neue Frage auf, ob die Mörder aus den eigenen Reihen kamen, ob enttäuschte ehemalige Mitglieder der Gruppe die unbekannten Täter waren. Nun sieht man bei E. Armand, wie wenig Zuneigung er für Filareto, mit dem er jahrelang in Kontakt, Zusammenarbeit und Streit gewesen war, empfand. Wie scharf einige ihrer Diskussionen gewesen sein mögen, können wir jetzt nur annehmen. Aber bei der ganzen Sache ging es um die Berechtigung der Theorie und Praxis des anarchistischen Lebens und um das Leben von Kameraden, die dem Ruf von Kolonien wie der Kaverno folgend, ihre ganze Existenz, mit Hab und Gut, aufs Spiel setzten. Alles gaben sie auf, sie wanderten mit ihrer Familie aus und oft genug erlebten sie eine schlimme Enttäuschung. Deutet E. Armand deswegen an, dass Filareto so starke Agressionen bei manchen seiner eigenen Kameraden erweckt haben mag, dass diese dazu kamen, ihn zu ermorden? Das können wir hier nicht klären. Jedenfalls taucht hier eine neue, furchtbare Variante der Beweggründe auf, die zur Ermordung Filaretos führten.