Progreso, 1934

Nachruf und weitere Dokumente zu Kavernidos Tod

Soweit wir wissen, haben die Herausgeber der Ido-Zeitschrift PROGRESO in der Schweiz eine der ersten Nachrichten über die Ermordung Heinrich Goldbergs alias Filareto Kavernido im Jahre 1934 in Europa veröffentlicht. In der Nummer 99-100 (1-2), Februar-April 1934, Seite 36 heißt es:

Die Deutsche Übersetzung von Santiago Tovar:

Aus (der Stadt) Moca erreicht uns die Nachricht über den Tod von unserem glühenden Gesinnungsgenossen Dr. Goldberg, von zwei Unbekannten am Abend des 16. Mai 1933 ermordet. Dr. Goldberg wurde 52 Jahre alt. Er war einer der hervorragendsten Vertreter unserer Bewegung und widmete seine Existenz ganz der Verwirklichung seiner anarchistischen Ideale. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Chronik ein angemessenes Bild der Schaffenskraft des Freundes zu geben, der auf so tragische Weise verschwunden ist. Wir werden seinem Andenken in der folgenden Nummer der Zeitschrift Progreso ehren und einige der Artikel wieder abdrucken, die er unter dem Pseudonym Filareto Kavernido veröffentlicht hat. Sie alle bezeugen sein umfangreiches Wissen und den perfekten Stil, den er im schriftlichen IDO beherrschte. Er hinterläßt ein treues Andenken in den Herzen der vielen Mitkämpfer mit seinem Beispiel als tapferer Kämpfer, der für seine überzeugungen nicht nur zu leben, sondern auch zu leiden wußte.

Dieser Nachruf, 2003 im Internet gefunden, war der Anlaß, uns intensiver mit der Geschichte des Heinrich Goldberg zu beschäftigen. Ich selber kannte meinen Großvater ja nur aus Erzählungen meines Vaters, die insgesamt jedoch relativ wage waren, schließlich war mein Vater Vertuemo gerade einmal fünf Jahre alt, als seine Mutter Hannchen mit ihren fünf Kindern nach den Konflikten in der Kommune aus Südfrankreich zurück nach Berlin floh. Durchgängig war jedoch eine Prägung der Erinnerung meines Vaters durch die äußerts harte und autoritäre Erziehung meines exzentrischen Großvaters erkennbar. Glücklicherweise wurden diese frühen Kindheitserfahrungen jedoch durch die friedvolle und einfühlsame Erziehung der später alleinerziehenden Mutter relativiert. Somit wird auch verständlich, daß Vertuemo ohne Wehmut von einem geheimnisvollen Brief berichten konnte, den seine Mutter in Berlin erreichte, in dem sie vom Tode Heinrich Goldbergs in der Dominikanischen Republik informiert wurde. Leider ist dieser Brief verschollen, als Absender vermuten wir Mally Michaelis, Filaretos Lebensgefährtin in der Dominikanischen Republik. Er war lange Zeit der einzige Hinweis auf den Verbleib von Dr. Heinrich Goldberg. Bis Google eines Tages einen Nachruf in der Schweizer Zeitschrift „Progreso“ als Suchergebnis auswarf…

Später fand sich ein weiterer Brief von Mally Michaelis an E. Armand, den Herausgeber der französischen anarchistischen Zeitung „L’en Déhors“, datiert vom 28. Juli 1933. Mit der Absenderangabe „Señor Alcedo Rodriguez, Palo Blanco, Moca, Dominikanische Republik, (Rodriguez, selbst Großgrundbesitzer,  war der Verwalter der landwirtschaftlichen Kolonie, in der Filareto das Land für den eigenen Anbau bekommen hatte) schreibt Mally mit der Schreibmaschine in Französisch, so wie sie wohl zuvor zahlreiche Zeitungsartikel und Briefe nach Filaretos Diktat in die Maschine geschrieben hatte.

TG 2006 – Aktualisiert 05.2022

Cher Armand, comme je vous connais comme un des meilleurs amis de Filareto je ne veux et je ne peux plus hésiter à vous annoncer la mort de notre cher camarade. Plus pénible pour moi encore est de vous dire qu’il est mouru le 26 de mai par de coups de revolver de deux inconnus. Disons, les deux individus qui ont tiré sont inconnus. Le fait est le fin de machinations et intrigues terribles des types qui ont le courage de se nommer „anarchiste“. Je regrets beaucoup que vous n’avez pas recu, comme il me semble, ses dernièrs lettres, dans lesquelles il vous répétait nos expériences avec ces…(je ne peux pas écrire“hommes“) qui veullent chercher la liberté. Mais en vérité c’est libertinage et commaudité sans etre forcer travailler qu’ils veulent. Ils dezirent vivre avec la nature. Mais quand la nature leur offre leur beauté majestueuse, leur charme sans fin et leurs fruits ils ne reconnaissent rien de tout cela. Parce q’ils avaient revé de touver le paradis, meilleur dit, ils n’ont pensé à rien. Je crois qu’il y a un seul homme qui comprend ce que je vwux expliquer, c’est notre ami Pedro Prat qui a partagé avec nous autres ces expériences incomparables. Et j’ai vu que les types qui viennet des cercles dénommés „anarchistes“ sont plus maux encore que les autres qui proviennent de la classe bourgeoise et qui veulent, elle aussi aà leur tour, prouver une vie nouvelle et libre dans et avec la nature.J’avais hésiter de vous écrire jusqu’aujourd’hui parce’que j’avais espérer de pouvoir vous donner des détails plus exacts sur ce fait pour montrer à ces types leur vrai visage; mais ce n’est pas encore possible.

Je vous prie, si c’est possible, de vouloir bien continuer de m’envoyer votre journal qui m’intéresse, quoique je ne peux pas payer les frais sous l’adresse indiquée en bas.

En vous m’expliquant mes mercis je vous salue

Mally Michaelis

Die Übersetzung:

Lieber Armand, Da ich Sie als einen der besten Freunde Filaretos kenne, möchte ich keine weitere Zeit verstreichen lassen, ohne Ihnen den Tod unseres lieben Genossen mitzuteilen. Besonders traurig ist es für mich, Sie darüber zu informieren, dass er am 26. Mai durch die Revolverschüsse zweier Unbekannter getötet worden ist. Ich will damit sagen, dass die zwei Individuen, die geschossen haben, unbekannt sind. Das ist das Ergebnis der furchtbaren Machenschaften und Intrigen von Typen, die die Frechheit haben, sich “Anarchisten” zu nennen. Ich bedauere sehr, dass Sie, wie es scheint, seine letzten Briefe nicht erhalten haben, in welchen er Ihnen unsere Erfahrungen mit diesen…. (ich kann das Wort “Menschen” gar nicht schreiben), die angeblich die Freiheit suchen, wiederholt erzählte. Aber in Wirklichkeit streben sie ein zügelloses Leben und ihre eigene Bequemlichkeit an, ohne arbeiten zu müssen. Sie wollten mit der Natur leben. Aber wenn die Natur ihnen ihre majestätische Schönheit, ihren unendlichen Reiz und ihre Früchte bietet, sind sie unfähig, das zu erkennen. Sie hatten davon geträumt, das Paradies zu finden, aber in Wirklichkeit hatten sie nichts im Kopf. Ich glaube, es gibt nur einen Menschen, der versteht, was ich Ihnen verdeutlichen will, und das ist unser Freund Pedro Prat, der mit uns diese unvergleichlichen Erfahrungen geteilt hat. Und ich habe festgestellt, dass Individuen, die aus sogenannten “anarchistischen” Kreisen stammen, oft noch schlechter sind als manche, die aus der bürgerlichen Klasse kommen und welche auch, ihrerseits, eine neues und freies Leben in und mit der Natur erproben wollen.

Ich hatte gezögert, ehe ich an Sie schrieb, weil ich hoffte, Ihnen genauere Einzelheiten über diesen Tatbestand geben und das wahre Gesicht dieser Individuen zeigen zu können, aber dies ist noch nicht möglich.

Ich bitte Sie, wenn möglich, Ihre Zeitung, die mich interessiert, weiterhin an die angegebene Adresse zu senden, obwohl ich die Kosten nicht bezahlen kann.

Ich danke Ihnen und übersende meine Grüsse

Mally Michaelis

(Übersetzung Santiago Tovar)

Gerade einmal zwei Monate nach dem Tode ihres Lebensgefährten und Vater ihrer vier Kinder berichtet sie Armand von dem Tode ihres „lieben Kameraden“ im Sinne eines Kampfgenossen. Bezugnehmend auf einige Briefe Filaretos an Armand, die er laut Mally Michaelis wahrscheinlich nicht mehr erhalten habe, erwähnt sie große Streitigkeiten innerhalb der Gruppe der ausgewanderten Anarchisten und deutet an, daß, auch wenn sie die beiden Mörder nicht kenne, sie aus dem Lager der Siedler kämen. Ihr Schreibstil ist unter dem Aspekt einer möglichen Trauer unemotional, pathetisch verdammt sie dagegen diejenige Gruppe der Anarchisten, die offenbar Filaretos Askese und Härte, seinem Streben zu einem besseren Leben in Einheit mit der Natur, nicht folgen wollten; möglicherweise waren sie auch schlichtweg enttäuscht von den Realitäten, die sie im Gegensatz zu Filaretos blumigen Beschreibungen in seinen verschiedenen Zeitungsveröffentlichungen in der Dom. Republik tatsächlich vorfanden, nachdem sie zum Teil Hab und Gut aufgaben, um seinen Träumen einer anarchistischen Welt in einem Paradies zu folgen.Bezeichnend ist dabei die nüchterne und überlegte Haltung, die Mally in dieser Situation an den Tag legt. Unmittelbar nach dem Tode Filaretos muß sie das Leben für sich und die Kinder neu zu organisieren beginnen, bricht mit der Vergangenheit, vernichtet alle Hinweise auf die Vergangenheit und versucht, alle Spuren der Erinnerung bei den Kindern zu löschen. So bleibt für immer ungeklärt, wer die Mörder waren, so gingen zahlreiche Schriften Filaretos verloren, so wurde mündlich so gut wie nichts überliefert. Heute führt die Familie ein wohlhabendes Leben und ist weltweit verteilt. Als Mally schließlich 80 jährig stirbt, hinterläßt sie zahlreiche Enkel, von denen einige schon nichts mehr von der eigentlichen Familiengeschichte wissen.

Warum aber, wenn sie ihr Leben sofort nach dem Mord so derartig änderte, warum proklamiert sie dann zwei Monate nach Filaretos Tod noch so stark sein anarchistisches Gedankengut…

E. Armand kommentiert diesen Brief in einem Artikel seiner Zeitschrift wie folgt:

“Ein kurzer Brief aus Palo Blanco, in der Dominikanischen Republik, mit Datum 28. Juli, informiert uns dass der Dr. Goldberg – besser bekannt unter seinen Alias Filareto Kavernido – ist am 26. Mai zwei von „Unbekannten“ abgefeuerten Revolverschüssen erlegen. Man muss hier das Ergebnis, wie man uns versichert, von Machenschaften und Intriguen von sogenannten Anarchisten sehen, die „ihre Freiheit leben möchten, ohne arbeiten zu müssen“. Sie wünschen, wie dieser Brief noch berichtet, in der Natur zu sein, aber wenn die Natur ihnen ihre grossartiege Schönheit, ihren unendlichen Charme und ihere vorzüglichen Früchte bietet, verkennen sie sie. Diese Individuen, „die aus anarchistischen Kreisen stammen, sind schlimmer als die, die aus der Bourgeoisie kommen“, endet mit Bitterkeit der Brief. Und wir verstehen diese Bitterkeit. Die letzten Nachrichten von Kavernido, die im vorigen Blatt erschienen waren zeigten, dass in der „Kaverno di Zaratustra“ nicht alles zum Besten bestellt war, aber dass es zu diesem Drama kommen würde, von dem uns jetzt berichtet worden ist, war nicht abzusehen. Wir dürfen in jedem Falle den Rückgriff auf solche Gewalttätigkeit nicht gutheissen. Wenn jemandem die Umgebung, die er selbst nicht geschaffen hat, nicht passt, sollte er sie einfach verlassen…. und fertig. Gewiss, Filareto Kavernido hatte sehr eigenartige Ideen, und sein Kommunismus passte uns eigentlich nicht so richtig. Aber man kann ihm weder Beharrlichkeit noch zielgerichtete Aktivität abstreiten. Aus Berlin und seiner Umgebung war er mit seiner „Kaverno“ nach Tourrettes-sur-Loup, dann nach Korsika und schliesslich nach Santo Domingo umgezogen. Nichts hatte ihn entmutigt, weder die Austritte noch die Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten noch die Schikanen mit Behörden. Es ist an diesen Sachen, an denen man einen Menschen beurteilt, und nicht an einem mehr oder weniger gefälligen Zug seines Charakters. Fügen wir hinzu, dass Kavernido die Ido Sprache mit Vollkommenheit beherrschte, dass er mit den Ido-Zeitschriften aktiv zusammengearbeitet hat, indem er Analysen und Artikel geschickt hat, die, wenn vielleicht nicht für den Geschmack von jedermann, immer interessant waren.“

Der Nachruf, der auf einem unbekanntem Brief basiert, wirft die neue Frage auf, ob die Mörder aus den eigenen Reihen kamen, ob enttäuschte ehemalige Mitglieder der Gruppe die unbekannten Täter waren. Nun sieht man bei E. Armand, wie wenig Zuneigung er für Filareto, mit dem er jahrelang in Kontakt, Zusammenarbeit und Streit gewesen war, empfand. Wie scharf einige ihrer Diskussionen gewesen sein mögen, können wir jetzt nur annehmen. Aber bei der ganzen Sache ging es um die Berechtigung der Theorie und Praxis des anarchistischen Lebens und um das Leben von Kameraden, die dem Ruf von Kolonien wie der Kaverno folgend, ihre ganze Existenz, mit Hab und Gut, aufs Spiel setzten. Alles gaben sie auf, sie wanderten mit ihrer Familie aus und oft genug erlebten sie eine schlimme Enttäuschung. Deutet E. Armand deswegen an, dass Filareto so starke Agressionen bei manchen seiner eigenen Kameraden erweckt haben mag, dass diese dazu kamen, ihn zu ermorden? Das können wir hier nicht klären. Jedenfalls taucht hier eine neue, furchtbare Variante der Beweggründe auf, die zur Ermordung Filaretos führten.

Infos zum Artikel

Zeitung: Progreso
Erscheinungsdatum: Februar/April 1934
Nummer: unbekannt
Autor: Herausgeber von Progreso
Überschrift: keine
Thema: Nachruf auf Filareto Kavernido

L’en Dehors, August 1933, No 260-261, Jg 12

La Kaverno di Zaratustra

Der Artikel richtet sich an den Herausgeber der Zeitschrift L’en Dehors E. Armand. Er ist datiert mit dem 21.März 1933 und ist somit einer der letzten Berichte von Filareto Kavernido vor seinem Tod.

Infos zum Artikel

Zeitung: L’en Dehors
Nummer: 260-261
Erstellungsdatum: 21. März 1933
Erscheinungsdatum: August 1933
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: La Kaverno di Zaratustra
Thema: Der Artikel richtet sich an den Herausgeber der Zeitschrift L’en Dehors E. Armand. Er ist datiert mit dem 21.März 1933 und ist somit einer der letzten Berichte von Filareto Kavernido vor seinem Tod.

L’en Dehors, Juni 1927, No 110-111

La caverne de Zarathoustra

Fünfhundert Meter über dem Mittelmeer, -das uns seine blaue Küste von Menton bis Cannes zeigt und die italienischen Ufer und Corsica im Hintergrund entfaltet, – haben wir 700 Hektar nahezu jungfräuliches Gelände entdeckt. Auf diesem Gelände ist ein Sanatorium errichtet, das einen Ackerboden der besten vorstellbaren Qualität und zahlreiche Rinder, Pferde, Schafe, Schweine, Hühner, Esel und andere Haustiere besitzt; außerdem ein großes und ein kleines Haus und zwei Schafsweiden mitten zwischen den Gebüsch der Berge.

Alles dies, – Gelände, Tiere, Gebäude – wurde uns gegeben, um es in Stand zu setzen, unter der Maßgabe, die Hälfte der erträge an das Sanatorium abzuführen. das erste Jahr hatten wir viel Mühe, das Gelände von dem Gebüsch zu befreien, Terrassen anzulegen, den Ochsen das vernünftige Arbeiten beizubringen und den Boden von den Steinen zu befreien; daher haben wir im ersten Jahr nur zwei Zehntel bezahlt, acht Zehntel blieben für uns; im zweiten Jahr werden wir sieben Zehntel bezahlen, im Dritten sechs Zehntel, und es wird erst im vierten Jahr sein, in dem wir die vereinbarte Hälfte ausschütten. Das Sanatorium übernimmt die Kosten für Baumaterial, Pflanzen und Obstbäume.

Im Moment sind wir zehn Erwachsene und ein Kind. Zehn weitere Erwachsene und zwei Kinder werden sich uns anschließen, sobald die Genehmigung der Behörden eingetroffen ist. Denn wir sind in Deutschland geboren, und der Krieg zwischen den Franzosen und den Deutschen ist noch nicht zu Ende. Man kann gut verstehen, daß wir schon einige Schwierigkeiten mit den Nachbarn hatten, auch wenn der nächste in fünf Kilometern lebt. Aber das Schlimmste waren die Arbeiter des Sanatoriums, große Weintrinker und sorglos im Umgang mit den Tieren und der Arbeit, die loszogen um im ganzen Land zu erzählen, die Deutschen hätten Frankreich besetzt, so daß der Polizeikommissar, der stellvertretende Präfekt und andere offizielle Personen kamen um die Gefahr zu untersuchen, die unsere Anwesenheit für die Freiheit Frankreichs darstellt. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist schließlich, daß die Höhle des Zarathustra“ als anarcho-kommunistische und religiöse Sekte anerkannt wurde und man uns in dieser Höhe nach unserem Gutdünken leben ließ.

Eines Morgens um sechs Uhr kamen mehrere Arbeiter des Sanatorium zu Pferde, um mir einen Brief vom Büro zu überbringen. Ich war nackt (wir sind das immer, wenn es das Wetter zulässt), und, wie ich war, begab ich mich zum Treffpunkt mit dem Boten, erstaunt, ihn dort zu dieser frühen Stunde zu sehen. Einige Tage später tauchten zwei Polizisten auf, die mir mitteilten, daß man mich anklage, den öffentlichen Anstand zu verletzen. Ich erklärte, daß es wahr sei, daß wir hier zu Hause seien und ich dächte hier, in dieser absoluten Einsamkeit, könnten wir niemanden beeinträchtigen. Während ich mich mit ihnen unterhielt, liefen unsere Kinder, nackt, vom Haus zum Brunnen oder zum Stall. Die Polizisten, besonders der Jüngere, betrachteten ihre nackten Körper, grazil und sonnengebräunt, und sie gaben zu, daß diese Lebensart kein Anstandsgefühl verletzen könne. Ich habe nie wieder ein Wort über dieses schwere Delikt gehört.

Die Arbeit ist auf die Art und Weise organisiert, daß die Arbeiter sich in kleine autonome Gruppen aufteilen, die alle ihre eigenen Bereiche haben. So kümmern sich die Einen um die Pferde und den Transport der Waren aus dem Tal, während die Anderen sich um das Vieh kümmern; andere schließlich kultivieren den Garten. Die Zusammenarbeit all dieser Gruppen ist die Garantie für das gemeinsame Mal, in deren Verlauf wir uns mit allem auseinander setzen, was uns interessiert.

Hier ist es nun also für 200 Personen möglich, die ethische Grundlage des Anarcho- Kommunismus bis in die Einzelheiten zu verwirklichen. Wir arbeiten mit unseren eigenen Kräften, wir beschäftigen keinen bezahlten Arbeiter. Auf der anderen Seite nehmen wir niemanden auf oder weisen keinen ab, wir sehen uns nicht als Führer, die das Recht besitzen, aufzunehmen oder abzuweisen. Wer mit uns leben und bauen will, kann kommen, er wird zu Hause sein – aber natürlich können wir es Personen mit anderen Ideen als den unsrigen nicht erlauben, zu uns zu kommen, um unsere Arbeit zu zerstören. Wir hoffen, daß viele Kameraden kommen werden, um uns zu helfen, aber wir sind sicher, daß unser Werk nicht untergehen wird; die Generation unserer Kinder garantiert das Wachstum unserer neuen Umgebung; und tatsächlich, Zehn unserer Kleinen haben in unserer „Kaverne“ bereits das Tageslicht erblickt.

Wir haben die besten Maschinen, die Kraft der großen und kleinen Tiere, und alle Möglichkeiten, um in kurzer Zeit 200 Personen zu beschäftigen, wenn wir momentan 20 fänden, um die Bedingungen für die anderen vorzubereiten. Die einzige Bedingung, die an die Zusammenarbeit mit uns geknüpft ist es, mit uns streng nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus zu leben.

Wir sind keiner Revolutionäre und keine Spinner (révoltés -umgedrehten), im üblichen Sinne der Wörter. Wir haben keine Zeit, auf die Revolution zu warten, um ein neues Leben zu beginnen, da die Revolution eine Sache der persönlichen Einstellung ist, oder die Politk hat damit nichts zu tun. Ohne Zweifel: ich erkenne an, daß der Mensch das Recht hat, sich den Pflichten zu widersetzen, die ihm die Gesellschaft auferlegt, aber in diesem Falle stellt er sich außerhalb der sozialen Gemeinschaft und hat nicht mehr das Recht, irgendetwas für sich zu reklamieren. Als Anarchist aber bin ich gezwungen, das Recht des Anderen anzuerkennen, nach seiner Lebenskonstruktion zu funktionieren; grundsätzlich muß ich das Recht des Funktionierens eines organischen und sich entwickelnden Lebens anerkennen, so wie es auch das bourgeoise Leben ist. Was mich betrifft, habe ich sicher das Recht, diese Gesellschaft zu verlassen und mir mein eigenes Leben neben ihr aufzubauen; nur muß ich stark genug sein, meine besondere Form wahren zu können.

Nach acht Jahren hat die „Kaverno di Zarathustra“ ihre Stärke bewiesen, und wenn wir Unterstützung finden, können wir all jenen helfen, die die bürgerliche Gesellschaft verlassen wollen. Sie besteht bereits aus zwei Gruppen, die eine arbeitet in Deutschland, die andere hier. Bei Berlin beschäftigen wir uns mit Gemüseanbau, hier im Süden Frankreichs betreiben wir großflächigen Anbau, kombiniert mit Gartenbau und Viehzucht, so daß wir Kameraden aus allen Bereichen brauchen. Das Gelände ist ein wahres Paradies, sowohl in der Schönheit des Panoramas und der Klarheit der Luft als auch in der Ursprünglichkeit unseres Lebens….

FILARETO KAVERNIDO

Gruppe Le Villars, aus Tourrettes-sur Loup (Var.) – 2. Mai 1927 – als Ergänzung zu dem von mir vor sechs Monaten geschriebenen obigen Text, füge ich an: Der Vertrag mit dem Sanatorium kann nicht legal weitergeführt werden, da das Gericht eine Voruntersuchung eingeleitet hat zum Sachverhalt des Tatbestandes der Störung der öffentlichen Ordnung. Daher ist unser Aufenthalt in Frankreich nur vorläufig: selbst wenn wir nur zu einer Strafe von einem Franc verurteilt werden, werden wir automatisch sofort ausgewiesen. Somit ist es uns nicht möglich, den Vertrag fortzuführen. Trotzdem leben wir in unserem Paradies nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus. Unserer Gruppe setzt sich zusammen aus 8 Männern (4 Deutsche, 2 Bulgaren, ein Tscheche und ein Franzose) 4 Frauen und 18 Kindern, von denen zwei  hier das Licht der Welt erblickt haben. Wir arbeiten für das Sanatorium, kümmern uns um das Vieh, arbeiten in der Küche, im Garten, erledigen Besorgungen etc. Zur gleichen Zeit betreiben wir Gartenbau für uns, wir züchten verschieden Tiere (Schafe, Hühner, Kaninchen). Die Untersuchung dauert weiterhin an, man läßt uns in Ruhe leben, aber die Behörden verweigerten sechs Mitstreitern aus Berlin, sich uns anzuschließen. Dies ist nicht eine Maßnahme gegen unsere Kolonie, dies ist eine Folge der allgemeinen Ausländerpolitik. Keine Schwierigkeiten also, sich uns anzuschließen, wenn man die Möglichkeit hat, nach Frankreich zu kommen.

FILARETO KAVERNIDO

Dieser Artikel erschien 1927 in IDO in der Zeitschrift „L’en Dehors“

Übersetzung aus IDO in die Französische Sprache durch L’en Dehors

Übersetzung ins Deutsche: Tobias Gloger

Infos zum Artikel

Zeitung: L’en Dehors
Erscheinungsdatum: Juni 1927
Nummer: 110-111
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: La caverne de Zarathoustra
Thema: Kavernido berichtet über die Kommune im Sanatorium von Tourettes-sur Loup

Libereso Nr. 17, Juli 1925, Seiten 59-60

Freiheit

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Von Filareto Kavernido

Hin und wieder ist es nötig, sich zu fragen, was wir unter Freiheit verstehen. Manche denken, dass man nur frei ist, wenn man wie ein Vogel gen Himmel fliegen kann, andere wiederum sind bescheidener und fühlen sich bereits frei wenn sie mal Morgens den Mut finden, nicht zur Arbeit zu gehen und, mangels einer befriedigenden Entschuldigung, einfach im Bett liegen bleiben. Neulich fragte ich einen Kameraden, ob er beim Aufbau der neuen Gesellschaft hier und jetzt, nämlich der Kaverno di Zaratustra, helfen wollte, worauf er antwortete: „Wofür? Bin ich nicht etwa viel freier in dieser kapitalistischen Gesellschaft als in eurer mickrigen Organisation? Ich habe genug Geld, um mir meine Zigaretten, auf die ich auf keinen Fall verzichten will, zu kaufen; ich kann ins Theater oder ins Konzert gehen, wann immer mir nach einem solchen Vergnügen ist und ich meinen Geist erbauen will, und ich habe die Möglichkeit, meine Freizeit dazu zu nutzen, das zu lernen, was ich für meine persönliche Entwicklung brauche. Also wie könnte ich all diese Vorteile geniessen, wenn ich bei Eurer „Kaverno“ mitmachen würde?“

Wir haben keine andere Wahl als ihn zu bestätigen, dass es stimmt, dass all diese Dinge für uns “Kavernarien“ unmöglich sind, dass wir nicht genug Geld haben, um alle Wünsche jedes Einzelnen zu erfüllen; dass wir bis zur letzten Münze von unseren knappen Mitteln für die Erziehung unserer Kinder und für den Aufbau der Landkommunen und der Werkstätten in der Stadt benötigen. Worauf er lächelnd, ja sogar sich über uns lustig machend, uns den Rücken kehrt, um seine Freiheit nicht zu verlieren. Ich aber frage: Wer ist freier? Derjenige, der sein persönliches Leben gemäss seinen Wünschen leben kann oder wir, die wir mit Freude und Glück auf all diese Wünsche verzichten können, um unser Leben auf einen neuen Kulturstand zu heben?

Für mich bedeutet das Wort “Freiheit”, dass ich jederzeit dem Ruf meines Werkes, wann immer ich gebraucht werde, folgen kann. Neulich erhielt ich ein Telegramm, in welchem man mir mitteilte, dass die Düsseldorfer Regierung in einer bestimmten Sache mit mir direkt verhandlen wollte, und eine halbe Stunde später sass ich im Wagonabteil auf dem Weg zu meinem Ziel. Ich brauche kein anderes Gepäck als ein wenig zum Essen für die zwölfstündige Fahrt. Fahre von Berlin nach Düsseldorf oder Wien, so finde ich dort alles was ich brauche, als wäre ich zuhause in den Kommunen unserer Organisation, genauso wie in Berlin. Das ist, was ich Freiheit nenne. Ich kann jede Einschränkung ertragen, sei es meines eigenen Konforts, meiner Kleidung oder meines Magens, oder auch des Respekts anderer Leute, nur nicht die Achtung vor meinen Brüdern.

Darum stimmt mein Begriff der Freiheit mit dem von Marguerite Desprès überein, deren Ideen über die freie Liebe wir in der Nr. 14 unserer Zeitung gelesen haben. Dennoch besteht ein grosser Unterschied zwischen uns beiden. Denn für diese Kameradin besteht die Folge des freien Lebens darin, dass man für die materiellen Nöte der Kinder und Alten aller Proletarier Sorge tragen muss (freilich in ihrem Fall etwas gemildert dadurch, dass sie die Freundschaft mit Freunden aus der früheren Zeit pflegt und durch die Erinnerung an ein im allgemeinen angenehmes Leben, wie jeder Bourgeois es führt… ???) während ich von Brüdern und Kameraden umgeben bin und mein Leben in einem Milieu führe, in welchem diese Freiheit, von der ich gerade rede, bereits an die gemeinsame Befriedigung unserer ökonomischen und ästhetischen Bedürfnisse gebunden ist, und die Freiheit nur durch diese Bindung selbst vollkommen sein kann.

Daher komme ich zu folgendem Schluss: die wahre Freiheit kann nur da bestehen, wo der Einzelne an eine Kommune gebunden ist so, dass er seine Identität vollständig mit der der Kommune verbindet. Dann ist der Lebensprozess der Kommune der Lebensprozess des Einzelnen aber in einer dermassen breiteren Form, dass der Einzelne in diesem harmonischen Milieu das Gefühl hat zu schwimmen; diese Umgebung befreit ihn von der Schwerekraft so, dass der Einzelne die Illusion hegen kann, dass nur Hindernisse ausserhalb dieses Milieus ihn behindern können. Je breiter diese Kommune also wird, desto breiter wird das Meer sein, in dem sich der Einzelne ohne hindernisse bewegen kann.

Darum helft uns, die bereits bestehende Kommune, La Kaverno di Zaratustra zu entwickeln, damit sie uns die Bewegungsfreiheit der ganzen Menscheit gibt, und dadurch die wahre Freiheit geschaffen wird.

Übersetzung Ido von Santiago Tovar, Madrid

Infos zum Artikel

Zeitung: Libereso
Erscheinungsdatum: Juli 1925
Nummer: 17
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift:
Thema:

Libereso, Nr. 15, August 1924
Filareto Kavernido zu den Ido-Namen der Kinder in der Kommune. Lebendige Werbung der Ido-Sprache

Vivanta Ido propagili

Übersetzung

Lebende Werbeträger des IDO
Bis jetzt wurden in der Kaverno di Zaratustra fünf Kinder geboren, die in verschiedenen Standesämtern unter folgenden Namen eingetragen worden sind: Vertuemo, Joyigemo, Sajero (das r ist ein Schreibfehler des Beamten gewesen, wahrscheinlich anstatt eines s. -die Red.), Veremino und Esperoza. Immer, wenn jemand diese Namen hört, wird er fragen, was sie bedeuten und eine Lektion über die Weltsprache über sich ergehen lassen müssen. So haben wir also eine lebendige Werbung der Ido-Sprache geschaffen!

Deutsche Übersetzung: Santiago Tovar

Infos zum Artikel

Zeitung: Libereso
Erscheinungsdatum: August 1924
Nummer: 15
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: Vivanta Ido propagili
Thema: Filareto Kavernido zu den Ido-Namen der Kinder in der Kommune. Lebendige Werbung der Ido-Sprache

Tempelhofer Mariendorfer Zeitung, 25. Oktober 1921
Gerichtssaal

Ein Mariendorfer Weltverbesserer zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt

Der Begründer der anarcho-kommunistischen Gemeinschaft, die sich in der Kurfürstenstraße 24 zu Mariendorf ein Unterkommen gesucht hatte und deren Treiben auf dem Spreenhagener Gelände, wo sich die Anhänger dieser seltsamen Gemeinschaft als „Höhlenbewohner“ etabliert hatten, erhebliches Aufsehen erregt und das Einschreiten des Magsitrats veranlaßt hatte, Dr. med. Heinrich Goldberg, war dieser Tage vor der Strafkammer wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Er trat in der Kostümierung eines Naturmenschen – in blusenartigem Hemd, mit Sandalen an den unbekleideten Füßen und langem, bis auf die Schultern herabwallendem Haupthaar, wie man ihn ja oft genug in den Straßen Mariendorfs gesehen hat – vor die Richter. Der Angeklagte, der sich als Antimilitarist, Pazifist und Altruist bezeichnete und versicherte, daß er sich stets nur von rein ideellen beweggründen leiten lasse, ist seit dem Jahre 1905 Arzt. Er hatte in Hohenschönhausen eine Privatklinik für Frauen. Er soll hunderte von Operationen dort ausgeführt und in den Kreisen der Patientinnen sich großer Beliebtheit erfreut haben, da er von unbemittelten nie Honorar zu nehmen pflegte. Vor einiger Zeit ist er wegen Vergehens gegen den § 218 (Abtreibung) zu vierzehn Monaten Gefängnis verurteilt worden. Er hat ein höchst abenteuerliches Leben geführt. Seitdem er sich von seiner Frau getrennt hat, war er einige Zeit in Amerika und in England, wo er bei Ausbruch des Krieges interniert wurde und über drei Jahre im Gefangenschaft zubrachte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat der zum Einsiedler gewordenen Mann sich ganz seinen philantropischen“ Ideen hingegeben und die erwähnte Gemeinschaft gegründet, die kommunistischen Idealen huldigt. In Verfolgung dieser Ideen hat er in Spreenhagen einen kommunistischen Arbeitsbetrieb eingerichtet. Es wurde ihm zur Last gelegt, im Jahre 1911 den Tod zweier Frauen, die er wegen eines Leidens behandelte, durch Vernachlässigung der ärztlichen Sorgfalt verschuldet zu haben. Die Sache hat erst jetzt zur Aburteilung gelangen können, da der Angeklagte bisher unauffindbar war.(?) Dabei konnte man ihn im vorigen Jahr fast tagtäglich in Mariendorf sehen!) Die von den ärztlichen Sachverständigen abgegebenen Gutachten waren für den Angeklagten belastend. Ein psychatrischer Gutachter erklärte, daß der Angeklagte ein sehr gebildeter, aber sehr anomaler Mensch sei, jedoch nicht als geisteskrank gelten können. Das gericht kam zu der Überzeugung, daß der Angeklagte durch leichtfertige Operationen zwei Menschenleben vernichtet habe, und verurteilte ihn zu zwei Jahren Gefängnis bei sofortiger Verhaftung.

Dank an den Berliner Historiker Matthias Heisig für die Übermittlung des Artikels. Dieser Artikel, einer von drei Zeitungsausschnitten, die uns Matthias Heisig zukommen ließ, enthalten sehr wichtige Hinweise auf weitere Quellen.

Infos zum Artikel

Zeitung: Tempelhof Mariendorfer Zeitung
Erscheinungsdatum: 25. Oktober 1921
Nummer: unbekannt
Autor: unbekannt
Überschrift: Ein Mariendorfer Weltverbesserer zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt
Thema: Ein Gerichtsreporter berichtet über den Prozess und das Urteil gegen Heinrich Goldberg anläßlich eines Todesfalles bei einer Abtreibung

Tempelhof Mariendorfer Zeitung, 13. Juli 1921
Die Tempelhof Mariendorfer Zeitung zu einem Vortrag von Filareto Kavernido

Die Propaganda der Mariendorfer Anarcho-Kommunisten.

Die Nacktkultur der Höhlenbewohner von Spreenhagen beschäftigte vor einigen Wochen die gesamte großstädtische Presse. Das geistige Haupt dieser Gesellschaft von nackten Naturmenschen ist der auch in Mariendorf gut bekannte Dr. Goldberg, der Sohn des verstorbenen Weißenseer gleichnamigen Arztes.

Dieser Sohn praktizierte längere Zeit in Hohenschönhausen, wo er als Anarchist manches Abenteuer zu bestehen hatte. Die Verhältnisse spitzten sich so zu, daß Dr. Goldberg es vorzog, ins Ausland zu gehen. Nach der Revolution kehrte er zurück, um sich auf ein Gebiet zu verlegen, das Neigungen entspricht, die sich schon früher bei Dr. Goldberg geäußert haben. Dr. Goldberg gründete eine kommunistische, der freien Liebe huldigende Gesellschaft. Diese Gesellschaft lebte in dem einsamen Spreenhagen herrlich und in Freude,bis die Polizei eingriff und dem Treiben ein Ende setzte. Dieser Dr. Goldberg ist vom Weißenseer Arbeiter-Elternbund dazu ausersehen worden, einen Vortrag zu halten über die Unfähigkeit der Sozialisten und Kommunisten, ihre Anhänger für höhere Kulturstufen reif zu machen. Um dieses merkwürdige Thema zu begründen, schreibt ein Vorstandsmitglied des Arbeiter-Elternbundes der „Nord-Ost-Zeitung“: „Man würde dieser sogenannten Gemeinschaft der freien Menschen „La Kaverno di Zaratustra“ unrecht tun, wenn man selbige nicht als Idealisten, sondern als Utopisten und Phantasten bezeichnen oder ihr sogar unlautere und unsittliche Motive unterschieben würde. Allerdings weichen die Anschauungen dieser Sekte über Kultur und Zivilisation wesentlich von der allgemein geltenden Auffassung ab. Als Gast hatte ich mehrmals Gelegenheit, den Vorträgen dieses Führers – richtiger gesagt: Lehrers, denn dort gibt es angeblich keine Führer und keine Geführten – Dr. med. Goldberg beizuwohnen, und ich war erstaunt, mit welcher Beweglichkeit – ohne oberflächlich zu werden – dort auch von vielen Hörern, und zwar nicht nur aus den Kreisen von Intellektuellen, Philosophie Ethik und Ästhetik behandelt wurden. Dr. Goldberg, Dissident, jedoch nicht Atheist, bekennt sich zum kommunistischen Anarchismus, d.h. zur kommunistischen Produktions- und Wirtschaftsweise und anarchistischen Gesellschaftsordnung. Seine von ihm gegründete Gemeinschaft in der Mulackstraße ist auf dieser Grundlage aufgebaut. Die einzige Autorität ist die Vernunft des einzelnen, das einzige Zwangsmittel die Liebe des Schaffenden. Dr. med. Goldberg ist der festen Überzeugung, alle seine Ideale auf wirtschaftlich-friedlichem Wege, ohne Klassenkampf, den er als höchst unfruchtbar verwirft, und ohne Erringung der politischen Macht zu realisieren. Der Arbeiter-Elternbund, der auch gern Andersdenkende, somit auch Dr. med. Goldberg in seinen Vorträgen zu Wort kommen läßt, hat ihn deshlab zu einem öffentlichen Vortrag gewonnen“.

Infos zum Artikel

Zeitung: Tempelhof Mariendorfer Zeitung
Erscheinungsdatum: 21. Juli 1921
Nummer: unbekannt
Autor: unbekannt
Überschrift: Die Propaganda der Mariendorfer Anarcho- Kommunisten
Thema: Die Tempelhof Mariendorfer Zeitung zu einem Vortrag von Filareto Kavernido:

Dank an den Berliner Historiker Matthias Heisig für die Übermittlung des Artikels. Dieser Artikel, einer von drei Zeitungsauschnitten, die uns Matthias Heisig zukommen ließ, enthalten sehr wichtige Hinweise auf weiter Quellen, denen wir zur Zeit nachgehen.