Betrachtete sich Heinrich Goldberg als Jude?

Juden in Deutschland und seine Assimilationsform als Filareto Kavernido

Von Santiago Tovar
2006, Überarbeitung Juni 2024

Das Verhältnis von Heinrich Goldberg zu seiner Familie und im weiteren Sinne, sein Verhältnis zur damaligen deutschen Gesellschaft als Kind einer jüdischen Familie ist prägend für die Art, wie er sein Leben gestaltete. Die Wirkung von diesen Sozialisationsprozessen macht sich in seiner Suche nach alternativen Lebensformen bemerkbar. Wir haben zu dieser Interpretation alles zu Rate gezogen, was wir über den Werdegang von Heinrich Goldberg wissen. Da unsere Erkenntnisse etwas fragmentarisch sind, sehen wir ein, dass diese Interpretation nur ein Versuch ist.

Elternhaus Heinrich Goldberg, Berliner Allee, Weißensee

Heinrich Goldbergs Familie war finanziell gut gestellt. Heinrichs Vater, Ludwig Goldberg, geboren 1853, Mitglied der 1869 im Geiste der Neo-orthodoxie gegründeten Adass Jisroel Gemeinde, war Arzt mit Praxis in Weißensee, stand einem großen Haushalt mit insgesamt 11 Personen vor, leitete eine eigene Armenklinik, hatte Grund- und Immobilienbesitz (jedoch chronisch mit Hypothekarschulden belegt) und war der drittgrößte individuelle Steuerzahler der Gemeinde. Die Familie war prominentes Mitglied der örtlichen jüdischen Gemeinde in Berlin Weißensee. Zwischen 1898 und 1904 war Ludwig sogar Gemeindevertreter, ein ehrenamtlicher Posten, der eine klare soziale Bedeutung zeigt. Er war gewissermaßen gesellschaftlich “assimiliert” ohne auf die eigene jüdische Religion verzichten zu müssen. 

Um die Jahrhunderwende gab es für gebildete Juden in Deutschland grob gesagt folgende Optionen: 

  • Die erste war jüdisch zu bleiben, abseits der Hauptströmung der Gesellschaft stehen, die Religion zu praktizieren und dabei auf eine Reihe von beruflichen Möglichkeiten, etwa Staatsdienst, Heeresoffizier, höhere akademische Laufbahn u. Ä. zu verzichten. Hier ist Ludwig Goldberg zu finden. Die praktizierenden Juden teilten sich in verschiedene mehr oder weniger strenge Gruppen und in die Reformjuden auf. In letzterer Gruppe, deren erster Repräsentant historisch Moses Mendelsohn im 18. Jahrhundert war, finden wir zahlreiche Persönlichkeiten der jüdischen Welt.
  • Eine zweite Möglichkeit war die der Konversion zur christlichen Religion, einschliesslich Taufe und Übernahme der äusseren Merkmale der Mitglieder der offiziellen religiösen Lehre (in Preussen die evangelische Kirche); dieser Weg wurde um die Jahrhundertwende von immer mehr Juden beschritten, und die Zahl der Mischehen in der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkriege zeigt ihre wachsende Bedeutung in einer auch zunehmend säkulären Welt; diese verlor zumindest unter den Mittelschichten zur Zeit Heinrich Goldbergs in den grösseren Städten rapide an Bedeutung; dennoch öffnete diese Entscheidung den konvertierten Juden nicht alle Möglichkeiten, die die Gesellschaft den “richtigen Christen” bot, denn insbesondere das Militär, aber auch das hohe Beamtentum und andere obere Stände des öffentlichen Lebens blieben ihnen weiterhin verschlossen. 
  • Die dritte Hauptvariante, die vor der Jahrhundertwende an Bedeutung gewann und in den Jahren der Weimarer Republik häufiger wurde, war die Assimilierung an diese immer weniger religiöse Gesellschaft. Darunter findet man nicht nur religiös uninteresssierte Menschen, sondern auch active Atheisten, Agnostiker oder Skeptiker, auffallend viele Vertreter der Wissenschaft und des Kulturlebens. Der erste historische Vertreter dieser Variante ist möglicherweise Heinrich Heine, der über seine Entscheidung aber nie glücklich wurde. In der uns beschäftigenden Zeit finden wir hier z. B. Viktor Klemperer.
  • Innerhalb dieser drei groben Kategorien kann man unzählige Nuancen und individuelle Varianten finden. Allen gemeinsam ist jedoch, daß die Gesellschaft, trotz unbestreitbarer Fortschritte seit dem 19. Jahrhundert und trotz der im europäischen Vergleich für die Juden bestehenden verhältnismässig guten Bedingungen, den Juden in Deutschland eine Sondersituation einräumte, d. h. sie blieben diskriminiert, eine volle Integration wurde ihnen nicht gewährt. Irgendwann wurde ein assimilierter Jude mit dieser Situation konfrontiert, sei es gesellschaftlich, sei es beruflich oder in irgend einem anderen Bereich des Zusammenlebens. Den Juden blieben meistens nur ihre traditionellen Betätigungsfelder offen: Handwerk, Finanzen, Handel und immer öfter die Kunst, der Journalismus, freie Berufe wie Anwälte, Mediziner, usw.[1]Vgl. Amos Elon: “Zu einer anderen Zeit – Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933”, Hanser Verlag 2002. Vgl. auch Nachum T. Gidal “Die Juden in Deutschland – von der Römerzeit bis … Fußnote vollständig anzeigen

Diese Widersprüchlichkeit der Stellung der Juden in der deutschen Gesellschaft drückte sich in der erstgenannten Gruppe so aus, daß die Mitglieder der jüdischen Gemeinden untereinander um Doktrin, Reform des jüdischen Glaubens, Fragen der Integration und Absonderung der deutschen Gesellschaft oder Haltung gegenüber der von der kleinen Zionistischen Bewegung propagierten Gründung des jüdischen Staates lebhaft stritten. Allen gemeinsam war eine gewisse Distanz gegenüber, ja sogar offene Ablehnung der rückständigeren osteuropäischen Juden. Bei solchen Diskussionen kann man sich Ludwig Goldberg, den Vater von Heinrich, gut vorstellen. Er, der gutsituierte Arzt, der sich auch als Armenarzt betätigte, plädierte wahrscheinlich für Reformen in der Gemeinde, für Öffnung und Modernisierung, für eine gewisse Integration und sicherlich auch für eine karitative Haltung gegenüber den Ostjuden, die zunehmend in Deutschland einwanderten. Diese Betätigung war eine der Ziele, für die sich die Adass Jisroel Gemeinde einsetzte. Ludwig Goldberg gehörte dieser Gemeinde an, die im Vergleich mit der Jüdischen Gemeinde weniger Bedeutung hatte, ja sogar relativ marginal war.  

Dennoch hat man den Eindruck, daß er, Heinrichs Vater, mit seiner Position nicht zufrieden war. Zu eng waren damals noch die Grenzen, die den praktizierenden Juden von der Gesellschaft gesetzt wurden: in der Wissenschaft, in der akademischen Welt, im öffentlichen Leben, selbst in der Kunst, obwohl sie traditionell eine starke Domäne der jüdischen Kultur gewesen ist. Und Ludwig Goldberg war offenbar ein unruhiger, umtriebiger Mensch; es ist bekannt, daß er den Posten des Gemeindevertreters niederlegte, weil er mit einem Plan zur Zusammenlegung mit einer anderen Gemeinde nicht einverstanden war; obwohl er eine eigene Klinik betrieb, betätigte er sich auch als Armenarzt: dies zeugt von seinem sozialen Engagement; wir vermuten – vielleicht werden wir es auch später nachweisen können – daß Sohn Heinrich sein Interesse für Musik, Literatur und Wissenschaft sowie seinen rebellischen Charakter aus dem häuslichen Einfluß mitgenommen hat. Es sieht nicht so aus, als hätte er seinen aufrührerischen Geist im Widerstand gegen die Familie entwickeln müssen. Bei “Menschliches, Allzumenschliches” von Nietzsche finden wir die Passage zur “Tragödie der Kindheit”, wo es heisst:

Es kommt vielleicht nicht selten vor, daß edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, daß sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist.”

Wir wissen nun auch, dass Heinrich Goldberg eine Affäre mit einer jungen Frau in Berlin hatte, die der Familie nicht genehm war. Deswegen war er von seinem Vater 1904 nach Freiburg geschickt worden, wo er das letzte Studienjahr der Medizin belegte. Er beendete es auch erfolgreich, obwohl er sich vielleicht nicht voll auf das Lernen konzentrierte, da die unerwünschte Freundin mit nach Freiburg gekommen war. Es ist bekannt, dass die jüdischen Medizinstudenten an der Universität in vielen kleinen Details diskriminiert wurden. Sie hatten keinen Zugang zu den wichtigen Verbindungen, hatten Einschränkungen bei bestimmten Dienstleistungen und, besonders krass, sie mussten bei den praktischen Anatomieübungen ganz hinten anstehen. Hier wäre Heinrich in der letzten Reihe mit seinen Kommilitonen Alfred Döblin und Hermann Michaelis zu finden gewesen. Offensichtlich mit dem wohlwollenden Einverständnis seiner Eltern heiratete er einige Jahre später “standesgemäß” eine jüdische Frau: es handelt sich um Henny Lucie Calmon, geboren 1883 und Tochter eines Kaufmanns aus Kyritz.

Die Verlobung und die Heiratsanzeige wurde sogar in der Zeitung veröffentlicht. Sie bekamen 9. 04.1909 eine Tochter.[2]Über die Existenz dieser “ausserordentlichen hübschen” Tochter, an deren Namen sie sich nicht erinnerte, berichtete uns das erste Mal Lotte Fenske im Jahr 2003. Danach haben wir andere Hinweise … Fußnote vollständig anzeigen

Heinrich Goldberg war jedoch kein Mensch, der sich auf Familienverhältnisse beschränken liess.

Sein Interesse gilt immer stärker den alternativen Lebensformen, den sozialphilosophischen Theorien und der internationalen Kunstsprache. Er lehnt die enge Welt der Religion ab, ihn interessiert der sichere aber nicht übermässige Wohlstand nicht mehr, der ihm seine Beruf einbringen kann. Er, der in seiner Dissertation Arbeiten von Sigmund Freud zitiert, stimmt wahrscheinlich immer mehr mit dessen Meinung überein, daß die Religion eine Form von Neurose sei. Die Welt der Religion ist so, in ihrer jüdischen Ausdrucksform, nicht mit seinem wissenschaftlichen Anspruch in Einklang zu bringen. Er stammt aus einer praktizierenden Familie, aber er kann sich immer weniger mit der Lebensweise, mit den Dogmen, mit der Geduld, Bürger zweiter Klasse zu sein identifizieren. In der Form der Assimilierung, die wahrscheinlich viele Bekannte aus seinen Kreisen jetzt vollziehen, nämlich sich taufen zu lassen und auf eine einigermassen positive Integration zu vertrauen, legt er keinen Wert. Er hat die Gedankenwelt und die höchste Kultur dieser Gesellschaft erspäht und diesen Weg will er beschreiten, ohne Umwege und ohne Zeitvertreib. Er gehört einer neuen Gemeinschaft an, die der Kulturmenschen, die ein Ziel in dieser Welt haben, die sich selbst und damit die Gesellschaft verändern wollen. Mit Deutschland, mit seiner diskriminierenden Gesellschaft, mit seinen bescheidenen Angeboten für die Nichtauserwählten, hat er nichts mehr zu tun. Nur die großen Kulturgüter, die sie hervorgebracht hat, sind für ihn bedeutend: Goethe, Beethoven, Nietzsche, das sind seine Götter.

Seine jüngst gegründete Familie empfindet er als Fessel, als Kontrolle. Er stimmt höchstwahrscheinlich Nietzsches Meinung über die Ehe und ihre Zukunft zu[3]

“Menschliches Allzumenschliches” F. Nietzsche 1876-1878

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“Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen: die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen Generation geschlossen,—eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen muss, einer natürlichen Beihülfe, des Concubinats; denn wenn aus Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunct massgebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen eintreten, was zu Perikles’ Zeiten in Athen sich begab: die Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden”. 

Er fühlt, daß die Gesellschaft ungerecht ist und daß er seine Position innerhalb derselben verändern muß, um überhaupt auf sie einwirken zu können, um von der Gesellschaft selbst ernst genommen zu werden. Offensichtlich haben Armut und Marginalität ihn immer stark beschäftigt und empört. Wir haben bereits gesehen, wie seine Ablehnung der Gesellschaft starke moralische Gründe hat, so z. B. wenn er in den Mitteilungsblättern die Übel der Gesellschaft mit den Worten “Prostitution und Verbrechen” zusammenfasst. 

Wir können seinen Prozeß des Aussteigens einen Weg der “Überassimilation” nennen. Andere Juden haben den Weg der Konversion zur herrschenden Religion gewählt, also haben sich taufen lassen als eine Form der Anpassung bzw. der Ablehnung ihrer früheren Religion, die nicht “zeitgemäß” war. Anders Heinrich Goldberg: er entwickelt wohl auf der einen Seite eine exaltierte Begeisterung für die deutsche Kultur, spricht sogar von Erzeugnis der deutschen Rasse im Zusammenhang mit Goethe oder Beethoven, und galoppiert aber auf der anderen Seite rücksichtslos und ohne Zwischenetappen weiter zu einer kosmopolitischen Haltung, bei welcher nicht die deutsche, sondern die internationale Hilfssprache eine wichtige Rolle spielt; zu einer pazifistischen Position – das ist gerade ab 1913 besonders brisant – und nicht zu einer chauvinistischen; nicht zu einer religiösen Konversion sondern zu einer agnostischen Haltung – er tritt ja 1910, knapp 30-jährig, aus der jüdischen Gemeinde aus. Die grosse Krise in seinem Leben tritt während einer Überseereise, die seine Eltern mit ihm, seiner Frau und Tochter 1913 nach Amerika unternehmen. Während der Rückreise in Europa setzt er sich von der Familie ab und beginnt seine lange Reise über verschiedene Länder. Entscheiden ist für sein Leben die Internierung während des Ersten Weltkrieges in England. Anscheinend tritt er in Kontakt mit den anarchistischen Ideen, vielleicht über Rudolf Rocker. Aber ihn interessieren bloss die radikalsten Varianten der Ablehnung der Gesellschaft und der Macht. Er hat also auch innerlich mit seinen Wurzeln gebrochen, er ist nicht nur Revolutionär, sondern auch Aussteiger, d. h. er hat über die Linie der einfachen Assimilation, des Ablegens der jüdischen Religion hinausgezielt. 

Auch ein meines Erachtens wichtiger Beweis dieser Abkehr ist die Tatsache, daß er, der sich für die Theorien der Interpretation und Veränderung der Gesellschaft brennend interessierte, kaum oder überhaupt keinen der zahlreichen Theoretiker jüdischer Herkunft  auf diesem Felde zitiert: Karl Marx kommt nicht vor, Ferdinand Lassalle ebenso wenig. Auch in der Musik ignoriert er nicht nur die zeitgenössische Entwicklung, an welcher zahlreiche Komponisten und Interpreten jüdischer Herkunft bedeutenden Anteil haben, sondern er hört überhaupt geschichtlich bei dem für ihn den Gipfel der Perfektion verkörpernden Beethoven, auf. Nach Beethoven gibt es für ihn in der Musik anscheinend nichts Erwähnenswertes mehr. Auch in der Literatur existiert für ihn eine Art Maßstab oder Hierarchie, wobei das höchste Stadium von Goethe repräsentiert wird. Daneben oder danach gibt es nichts von Bedeutung, und das, obwohl er vielleicht Heinrich Heine seinen Namen verdankt… Anders gesagt, er betrachtet sich nicht als Jude, er will auch nicht so betrachtet werden. Er ist Kulturmensch und Weltbürger, Kosmopolit. 

Man kann nun die vorsichtige Behauptung aufstellen, daß diese zweideutige Form der Assimilation seinem Charakter eine bestimmte Widersprüchlichkeit gibt. Nach nach dem Tod des Vaters 1917 und seiner Rückkehr nach Deutschland November 1918 hat er wohl den Kontakt zu seiner verwitweten Mutter Elise gesucht. Sie wohnte in der Rosenthalerstrasse. Seine Kommune hauste in der Mulackstraße, und zwar im rückwärtigen Gebäudeteil der Rosenthalerstraße in der Portierswohnung. Das Gebäude gehörte den Karfunkels, also den Verwandten der Mutter. Also haben wir Grund zur Annahme, dass die Mutter ihm unter die Arme gegriffen hat. Aber sein Leben als Filareto und das der Mitglieder der Kommune verlief in einer klaren Trennung vom Leben und Haus der Mutter.[4]

Hannchens Kinder erinnern sich, nur einziges Mal die Mutter Goldbergs gesehen zu haben, und zwar als sie im Krankenbett lag, es muss 1925-26 gewesen sein, als Heinrich bereits ausser Landes war.

Übrigens gibt es Grund zur Vermutung, daß das Eigentum der Familie – wir hatten gesehen, daß Vater Ludwig relativ gutgestellt war, vielleicht durch den Tod des Vaters und die Probleme der Kriegswirtschaft und der bald einsetzenden Inflation einfach ernsthaft beeinträchtigt worden war. Filareto musste aber Deutschland wegen der gerichtlichen Verfolgung diverser Delikte bereits 1925, möglicherweise sogar 1924 überstürzt verlassen. Deswegen können wir annehmen, dass seine Beziehung zu seiner Mutter, die anscheinend 1928 starb, bereits praktisch nicht vorhanden war. 

Mit den uns verfügbaren Daten können wir also feststellen, dass sein Verhältnis zur deutschen Gesellschaft als Kind einer jüdischen Familie seinen Charakter stark prägte und die Form bestimmte, wie er auf die damaligen Verhältnisse reagierte. 

Santiago Tovar 2006 – aktualisiert 07.2024

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Amos Elon: “Zu einer anderen Zeit – Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933”, Hanser Verlag 2002. Vgl. auch Nachum T. Gidal “Die Juden in Deutschland – von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik”
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Über die Existenz dieser “ausserordentlichen hübschen” Tochter, an deren Namen sie sich nicht erinnerte, berichtete uns das erste Mal Lotte Fenske im Jahr 2003. Danach haben wir andere Hinweise auf ihre Existenz gefunden. Im Juni 2024 haben schließlich den Beweis in Form einer Geburtsurkunde finden können. Die Tochter hiess Edith Lina. Aber vielleicht  haben die Kinder nicht Edith, sondern Irma, die Nichte von Heinrich Goldberg, gesehen. Das kann man heute nicht mehr überprüfen, aber es scheint das wahrscheinlichste, da wir annehmen, dass Henry mit Tochter nach Kyritz zu den Eltern erstmal gezogen war. Die Ehe von Heinrich und Henny wurde 1920 geschieden. Anlass war die Verurteilung Goldbergs durch ein Gericht am. 8.11.1919 wegen Abtreibung mit Todesfolge im Jahre 1911. Die Geburtsurkunde Ediths findet sich hier

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“Menschliches Allzumenschliches” F. Nietzsche 1876-1878

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Hannchens Kinder erinnern sich, nur einziges Mal die Mutter Goldbergs gesehen zu haben, und zwar als sie im Krankenbett lag, es muss 1925-26 gewesen sein, als Heinrich bereits ausser Landes war.