Märkische Allgemeine
27.12.2021

Arzt, Aussteiger, Kommune-Gründer: Wie Heinrich Goldberg zu Filareto Kavernido wurde und was ihn mit Kyritz verband

Matthias Anke schreibt in der Märkischen Allgemeinen Zeitung:

Die Geschichte der in den 1930ern aus der Stadt Kyritz vertriebenen jüdischen Kaufmannsfamilie Calmon führt neuerdings zu einem bemerkenswerten Mann. Es ist der Arzt Heinrich Goldberg, der zum Aussteiger wurde und bei namhaften Schriftstellern Erwähnung fand. Seine Nachfahren müssen dennoch ganze Forschungsarbeit leisten, um Details aus seinem Leben zu rekonstruieren.

Kyritz

In der Geschichte lässt sich hier und da immer mal wieder über etwas stolpern. Oft sind es nur Details. Die sogenannten Stolpersteine im Gehweg der Kyritzer Prinzenstraße, die dort seit 2017 an die letzten und in den 1930er Jahren vertriebenen Juden der Stadt erinnern, besitzen ein solches Detail: Henny Lucie Calmon, die Tochter des Kaufmanns Theodor, war eine verheiratete Goldberg. So steht es auf die Plakette gehauen.

Stolperstein Kyritz Calmon

Mehrere Jahre alte MAZ-Berichte über die Calmons und die bislang nur durch diesen Zusatz erkennbare Verbindung zur Familie Goldberg ließen kürzlich Santiago Tovar aufhorchen. Der Mann aus dem spanischen Madrid forscht seit Jahren über einen Arzt namens Heinrich Goldberg. Dessen von 1880 bis 1933 währendes Leben ist eine einzige „skurrile Geschichte“ , sagt er.

Woher kannten sich Henny Lucie Calmon und Heinrich Goldberg?

Auf jene Geschichte stieß er bei seiner Ahnenforschung. „Dieser Doktor Goldberg ist der Großvater meiner Frau“, schrieb Santiago Tovar der MAZ in der Hoffnung auf neue Erkenntnisse auch aus Kyritz: „Er war aus dem Familiengedächtnis total verschwunden.“

Santiago Tovars Frau Maja wie auch sein Schwager Tobias Gloger aus Hamburg sind Enkel von Goldberg, aber mit Henny Calmon nicht verwandt. Wie diese in Goldbergs Leben kam, was nach der Trennung passierte, will Tovar herausfinden und setzt damit auch auf die Hilfe von Kyritzern, die dazu etwas wissen könnten – Stadthistoriker, Mitglieder des Heimatvereins oder andere Geschichtsinteressierte.

Das Haus in der Prinzenstraße, in dem sich Calmons Geschäft befand. Quelle: Matthias Anke

Was rund um Heinrich Goldberg bekannt ist, hat Tovar als Mitherausgeber im Internet unter www.filareto.info veröffentlicht.

Der Ahnenforscher erzählt vom jüdischen Arzt Goldberg aus Berlin, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg vom konventionellen Leben Abschied nahm und unter dem Namen Filareto Kavernido zum Gründer einer Kommune wurde: „Er ließ sich von den Prinzipien des Anarcho-Kommunismus leiten und war von Nietzsche, Fourier und anderen Denkern beeinflusst. Außerdem war er Anhänger der FKK, Esperanto und Praktikant der freien Liebe. Seine Kommune dauerte 1919 bis 1933, als er in der Dominikanischen Republik unter ungeklärten Umständen ermordet wurde.“

Lebenslauf von Filareto Kavernido nur mühevoll nachvollziehbar

Noch zu Zeiten der Berliner Kommune mit ihrer „freien Liebe“ bekam er Kinder mit seiner Lieblingsfrau Hannchen Gloger, darunter Santiago Tovers Schwiegervater Vertuemo. Doch bevor Goldberg zum alternativen Leben überging, war er eben verheiratet.

„Davon ausgehend, das wir wissen, dass Goldberg 1908 in Berlin eine Henny Calmon aus Kyritz heiratete, und dass im Stolperstein von Henny Lucie Calmon steht, dass sie eine verheiratete Goldberg war, scheint es ziemlich sicher zu sein, dass es sich um seine Ehefrau handelt“, sagt Santiago Tovar.

Der Arzt Heinrich Goldberg soll Ehemann von Henny Lucie Calmon gewesen sein, die nach der Trennung wohl wieder nach Kyritz ging. Vom ihm gibt es offenbar keine weiteren Fotos. Quelle: privat

Goldbergs Leben haben er und seine Mitstreiter „nach und nach zusammengesetzt, oft aus fragmentarischen Informationen. Unser Anliegen entwickelte sich mehr und mehr dazu, seine Lebensumstände zu rekonstruieren, insbesondere aber auch die Geschichte der Leute, die mit ihm in Kontakt waren“.

Über Korsika und Südfrankreich in die Dominikanische Republik

Und dieses Umfeld spricht ebenso jeweils Bände. Goldberg, nunmehr Filareto Kavernido, veröffentlichte seine Ideen in eigenen Schriften, verwendete die Reformsprache Ido, publizierte kulturphilosophischen Gedanken in Zeitschriften. Er korrespondierte mit Sozialphilosophen und Reformern wie Pierre Ramus in Wien, Theodor Plievier oder Margarethe Hardegger in der Schweiz.

1926 zieht Kavernido mit seiner Kommune nach Tourrettes-sur-Loup in Südfrankreich und dann nach Korsika, bevor er 1929 in die Dominikanische Republik auswandert und dort 1933 „unter noch ungeklärten Umständen“ erschossen wird.

Kommilitone Alfred Döblin und die Schriftstellerin Anna Seghers

„Kavernido findet Erwähnung in zahlreichen Publikationen von Autoren wie Alfred Döblin, Anna Seghers, Max Fürst, Harry Wilde, Joaquín Maurín, Ulrich Linse, Dolors Marin, Regula Bochsler“, fanden die Familienforscher um Santiago Tovar heraus.

Während einiges länger und eindeutiger bekannt war, etwa die Bekanntschaft mit Alfred Döblin als dessen Kommilitone, ist anderes „ganz frisch“. So gab es dank der Homepage im August 2021 seitens der Anna-Seghers-Gesellschaft den Hinweis auf die Erzählung „Der letzte Mann der Höhle“ von 1929, in der Anna Seghers die „Kaverno di Zaratustra“ auf Korsika beschrieb.

Hatte Henny Lucie Calmon eine Tochter?

Fragen gibt es weiterhin etliche – eben auch rund um die 1883 in Kyritz geborene Henny Lucie. Sie sollte seit etwa 1913 von Goldberg geschieden sein. „Vielleicht nur getrennt“, sagt Santiago Tovar. Und: „Es gab eine Tochter namens Edith. Mehr wissen wir nicht.“

Tovar fragt sich: Was machte sie in Berlin? Wo wohnte sie? Lebte die 1909 geborene Tochter noch, als die Mutter deportiert wurde?

Kyritzer Schüler forschten einst über Calmons

Vater Theodor Calmon, geboren 1856 in Kyritz und dort Kaufmann, wurde 1936 aus seiner Heimat vertrieben und starb wenig später in Berlin. 2017 fanden Kyritzer Schüler dort sein Grab.

Tochter Henny Lucie hatte die Stadt schon Jahre zuvor verlassen. Sie wurde 1942 ins Konzen­trationslager Sobibor deportiert und dort ermordet.

Für Santiago Tovar handelt es sich bei alledem „um die ,kleine Geschichte’, die uns jene Zeiten näher bringt und zum Verständnis beiträgt, mehr nicht“.

Von Matthias Anke

Infos zum Artikel

Zeitung: Märkische Allgemeine Zeitung
Erscheinungsdatum: 27.12.2021
Nummer: unbekannt
Autor: Matthias Anke
Überschrift: Arzt, Aussteiger, Kommune-Gründer: Wie Heinrich Goldberg zu Filareto Kavernido wurde und was ihn mit Kyritz verband
Thema: Spurensuche zu Goldbergs erster Ehefrau Henny Lucie Calmon