Sennacieca Revuo
01.12.1921
La Kaverno di Zaratustra EIN EXPERIMENT
Ein Redakteur der Sennacieca berichtet von seinem Besuch im Roten Luch im Jahr 1921. Er erzählt über das Bestreben der Kommunarden, in der Natur frei zu leben, über die Organisation, die Anzahl der Mitglieder und den Gebrauch des Esperanto bzw. der Idosprache in der Gruppe.
Die Deutsche Übersetzung von Santiago Tovar:
La Kaverno di Zaratustra
EIN EXPERIMENT
Das existierende Gesellschaftssystem wird von allen Seiten angegriffen. Aber während eine Mehrheit den Kapitalismus mit Gewalt stürzen möchte, glauben einige Leute, dass man nicht warten sollte, bis die Revolution gelungen ist, um kommunistisch und frei zu leben.
In Russland scheint die Erfahrung zu zeigen, dass es nicht möglich ist, einer ungebildeten Masse per Dekret neue Lebensformen aufzuzwingen. Deshalb sind die Experimente, die in “Kolonien” durchgeführt werden, in denen ein “natürliches” und “libertäres” Leben angestrebt wird, immer interessant und wert, geteilt zu werden. Dazu fügen wir den Bericht von unserem Berliner Kameraden hinzu, der die “Höhle des Zarathustra” ein paar Mal besuchte – (Die Redaktion)
Vor 2 1/2 Jahren beschlossen einige Menschen, die sich aus der heutigen, heuchlerischen Lebensweise befreien wollten, eine “Kolonie” auf dem Land zu gründen. Unweit von Berlin im “Roten Luch” gelang es ihnen, von einem Grafen ein ziemlich großes Feld (10 Hektar) zu ergattern, auf dem sie in der Natur leben. Die Kolonie besteht aus etwa 30 Menschen. Darüber hinaus arbeiten befreundete Menschen und Unterstützer in Berlin daran, das Projekt zu unterhalten, bis sich die Situation verbessert. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass bis auf wenige Anhänger, die von Anfang an dabei waren, die Mehrheit der Siedler bisher fast ausschließlich aus „Mitläufer“ bestand. Etwa 300 Menschen haben bisher einige Zeit in der Höhle verbracht.
Initiator und Seele dieses Vereins ist Dr. Med. Heinrich Goldberg. Er kommt oft nach Berlin, um über sein Projekt zu sprechen und um Mitglieder und Unterstützer zu werben. Gegenwärtig ist er nicht in der Kolonie, sondern im Gefängnis. Seine Feinde zogen etwas aus der Vergangenheit ins Feld, nämlich zwei Todesfälle von Patientinnen in der von Dr. Goldberg 1911 betriebenen Privatklinik. Er wurde deswegen kürzlich zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Siedler sind gastfreundlich. Sie heißen Besucher herzlich willkommen und laden sie ein, am Leben der Kolonie teilzuhaben. Bei einem meiner Besuche am Morgen badeten wir alle halb – oder nackt – im Bach; danach aßen wir gemeinsam eine frisch gekochte Erbsensuppe. Dann habe ich mir die begonnenen und fertiggestellten Hütten sowie die Zelte angeschaut. Überall sind Gräben, um das Wasser abzulassen, weil dort eine Feuchtwiese ist. In der Nähe befindet sich ein Feld, auf dem bereits kräftig Gemüse wächst. Im Stall ein paar Tiere: Ziegen, Hühner und Kaninchen. Ein anderes Gebäude enthält die Werkzeuge. Ein anderes ist nach Art der Neger gebaut; es heißt „Kral“ und besteht aus einem mit Schilf bespannten Rundbau.
Jeder ist nach Belieben mit Arbeiten beschäftigt: Manche graben andere, fällen Bäume oder entwurzeln sie. Es geht darum, ein Haus für die Wintersaison zu bauen.
Bei meinem Besuch hatte eine Frau bereits entbunden, eine andere stand kurz vor der Geburt. Man fragt nicht, wer der Vater ist. Die Kinder gehören allen. Andere Kinder, die nicht in der Gemeinschaft geboren wurden, gelten jedoch auch als Familienmitglieder. Jeder, der mit dem Plan des Projekts einverstanden ist, kann der Kommune beitreten, und jeder kann sie verlassen, wenn sie ihm nicht mehr gefällt.
Vor einiger Zeit besuchte der Stadtrat die Kolonie und ordnete an, dass es mindestens zwei Schlafsäle geben sollte, damit die Männer und Frauen getrennt schlafen können.
Das ist nicht nötig, lautete die Antwort. Wir lieben frei. Weißt du was freie Liebe ist?
Ähm! … ja, ich weiß! … aber es ist gesetzlich verboten.
Wir haben keine Gesetze. Wir sind freie Menschen.
Da Sie sich jedoch in Deutschland befinden, müssen Sie zwei Gebäude haben.
Nun, hier stehen sie.
Der Landrat ging.
In der Nähe befindet sich eine neu gebaute Schule, deren Direktor die Kolonisten hasst, vor allem weil sie nackt baden. Dieser Herr sagte eines Tages:
Mein Ziel ist es, gute Preußen zu erzeugen.
Ich möchte gute Leute erzeugen, antwortete Goldberg.
Es gibt mehrere Idisten in der Kolonie und auch einen Esperantisten Mit letzterem habe ich gesprochen. Als der Besucher bemerkte, dass der Esperantist seine Sprache fließend sprach, während die Idisten sein IDO nicht gut konnten, änderte er seine Meinung zu Ido und beschloss, Esperanto zu lernen. Dr. Goldberg ist ein begeisterter Idist, und ausserdem polyglott.
Der Graf, dem das Grundstück gehört, steht dem Projekt wohlgesonnen gegenüber. Er hatte zugestimmt, einen Pachtvertrag abzuschließen, mit der Option, dass die Kommune nach zehn Jahren das Erstkaufrecht des Anwesens ausüben könnte.
Was wird bis dahin passieren? Niemand kann vorhersagen. Sicher ist, dass viele Menschen sofort eine neue Lebensweise praktizieren möchten. Kürzlich meldeten sich mehrere junge Leute aus Thüringen. Desillusioniert von der Lehre von Karl Marx wollen sie so schnell wie möglich im Kommunismus leben. Sie beabsichtigen, in Thüringen eine Zweigstelle der Kommune zu errichten, wie sie bereits in Uerdingen am Rhein besteht. Sie halten es für notwendig, dass es mehrere gleichartige Projekte gibt, damit die Mitglieder von einem zum anderen tauschen können. Das ist eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg.
HOM0.
(l) Unterschrift zum Bild: Jetzt sieht es etwas anders aus.
Infos zum Artikel
Zeitung: Sennacieca Revuo
Erscheinungsdatum: 01.12.1921
Nummer: unbekannt
Autor: unbekannt
Überschrift: La Kaverno di Zaratustra EXPERIMENTO
Thema: Ein Redakteur der Sennacieca berichtet von seinem Besuch im Roten Luch im Jahr 1921. Er erzählt über das Bestreben der Kommunarden, in der Natur frei zu leben, über die Organisation, die Anzahl der Mitglieder und den Gebrauch des Esperanto bzw. der Idosprache in der Gruppe.