L’en Dehors, Juni 1927, No 110-111

La caverne de Zarathoustra

Fünfhundert Meter über dem Mittelmeer, -das uns seine blaue Küste von Menton bis Cannes zeigt und die italienischen Ufer und Corsica im Hintergrund entfaltet, – haben wir 700 Hektar nahezu jungfräuliches Gelände entdeckt. Auf diesem Gelände ist ein Sanatorium errichtet, das einen Ackerboden der besten vorstellbaren Qualität und zahlreiche Rinder, Pferde, Schafe, Schweine, Hühner, Esel und andere Haustiere besitzt; außerdem ein großes und ein kleines Haus und zwei Schafsweiden mitten zwischen den Gebüsch der Berge.

Alles dies, – Gelände, Tiere, Gebäude – wurde uns gegeben, um es in Stand zu setzen, unter der Maßgabe, die Hälfte der erträge an das Sanatorium abzuführen. das erste Jahr hatten wir viel Mühe, das Gelände von dem Gebüsch zu befreien, Terrassen anzulegen, den Ochsen das vernünftige Arbeiten beizubringen und den Boden von den Steinen zu befreien; daher haben wir im ersten Jahr nur zwei Zehntel bezahlt, acht Zehntel blieben für uns; im zweiten Jahr werden wir sieben Zehntel bezahlen, im Dritten sechs Zehntel, und es wird erst im vierten Jahr sein, in dem wir die vereinbarte Hälfte ausschütten. Das Sanatorium übernimmt die Kosten für Baumaterial, Pflanzen und Obstbäume.

Im Moment sind wir zehn Erwachsene und ein Kind. Zehn weitere Erwachsene und zwei Kinder werden sich uns anschließen, sobald die Genehmigung der Behörden eingetroffen ist. Denn wir sind in Deutschland geboren, und der Krieg zwischen den Franzosen und den Deutschen ist noch nicht zu Ende. Man kann gut verstehen, daß wir schon einige Schwierigkeiten mit den Nachbarn hatten, auch wenn der nächste in fünf Kilometern lebt. Aber das Schlimmste waren die Arbeiter des Sanatoriums, große Weintrinker und sorglos im Umgang mit den Tieren und der Arbeit, die loszogen um im ganzen Land zu erzählen, die Deutschen hätten Frankreich besetzt, so daß der Polizeikommissar, der stellvertretende Präfekt und andere offizielle Personen kamen um die Gefahr zu untersuchen, die unsere Anwesenheit für die Freiheit Frankreichs darstellt. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist schließlich, daß die Höhle des Zarathustra“ als anarcho-kommunistische und religiöse Sekte anerkannt wurde und man uns in dieser Höhe nach unserem Gutdünken leben ließ.

Eines Morgens um sechs Uhr kamen mehrere Arbeiter des Sanatorium zu Pferde, um mir einen Brief vom Büro zu überbringen. Ich war nackt (wir sind das immer, wenn es das Wetter zulässt), und, wie ich war, begab ich mich zum Treffpunkt mit dem Boten, erstaunt, ihn dort zu dieser frühen Stunde zu sehen. Einige Tage später tauchten zwei Polizisten auf, die mir mitteilten, daß man mich anklage, den öffentlichen Anstand zu verletzen. Ich erklärte, daß es wahr sei, daß wir hier zu Hause seien und ich dächte hier, in dieser absoluten Einsamkeit, könnten wir niemanden beeinträchtigen. Während ich mich mit ihnen unterhielt, liefen unsere Kinder, nackt, vom Haus zum Brunnen oder zum Stall. Die Polizisten, besonders der Jüngere, betrachteten ihre nackten Körper, grazil und sonnengebräunt, und sie gaben zu, daß diese Lebensart kein Anstandsgefühl verletzen könne. Ich habe nie wieder ein Wort über dieses schwere Delikt gehört.

Die Arbeit ist auf die Art und Weise organisiert, daß die Arbeiter sich in kleine autonome Gruppen aufteilen, die alle ihre eigenen Bereiche haben. So kümmern sich die Einen um die Pferde und den Transport der Waren aus dem Tal, während die Anderen sich um das Vieh kümmern; andere schließlich kultivieren den Garten. Die Zusammenarbeit all dieser Gruppen ist die Garantie für das gemeinsame Mal, in deren Verlauf wir uns mit allem auseinander setzen, was uns interessiert.

Hier ist es nun also für 200 Personen möglich, die ethische Grundlage des Anarcho- Kommunismus bis in die Einzelheiten zu verwirklichen. Wir arbeiten mit unseren eigenen Kräften, wir beschäftigen keinen bezahlten Arbeiter. Auf der anderen Seite nehmen wir niemanden auf oder weisen keinen ab, wir sehen uns nicht als Führer, die das Recht besitzen, aufzunehmen oder abzuweisen. Wer mit uns leben und bauen will, kann kommen, er wird zu Hause sein – aber natürlich können wir es Personen mit anderen Ideen als den unsrigen nicht erlauben, zu uns zu kommen, um unsere Arbeit zu zerstören. Wir hoffen, daß viele Kameraden kommen werden, um uns zu helfen, aber wir sind sicher, daß unser Werk nicht untergehen wird; die Generation unserer Kinder garantiert das Wachstum unserer neuen Umgebung; und tatsächlich, Zehn unserer Kleinen haben in unserer „Kaverne“ bereits das Tageslicht erblickt.

Wir haben die besten Maschinen, die Kraft der großen und kleinen Tiere, und alle Möglichkeiten, um in kurzer Zeit 200 Personen zu beschäftigen, wenn wir momentan 20 fänden, um die Bedingungen für die anderen vorzubereiten. Die einzige Bedingung, die an die Zusammenarbeit mit uns geknüpft ist es, mit uns streng nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus zu leben.

Wir sind keiner Revolutionäre und keine Spinner (révoltés -umgedrehten), im üblichen Sinne der Wörter. Wir haben keine Zeit, auf die Revolution zu warten, um ein neues Leben zu beginnen, da die Revolution eine Sache der persönlichen Einstellung ist, oder die Politk hat damit nichts zu tun. Ohne Zweifel: ich erkenne an, daß der Mensch das Recht hat, sich den Pflichten zu widersetzen, die ihm die Gesellschaft auferlegt, aber in diesem Falle stellt er sich außerhalb der sozialen Gemeinschaft und hat nicht mehr das Recht, irgendetwas für sich zu reklamieren. Als Anarchist aber bin ich gezwungen, das Recht des Anderen anzuerkennen, nach seiner Lebenskonstruktion zu funktionieren; grundsätzlich muß ich das Recht des Funktionierens eines organischen und sich entwickelnden Lebens anerkennen, so wie es auch das bourgeoise Leben ist. Was mich betrifft, habe ich sicher das Recht, diese Gesellschaft zu verlassen und mir mein eigenes Leben neben ihr aufzubauen; nur muß ich stark genug sein, meine besondere Form wahren zu können.

Nach acht Jahren hat die „Kaverno di Zarathustra“ ihre Stärke bewiesen, und wenn wir Unterstützung finden, können wir all jenen helfen, die die bürgerliche Gesellschaft verlassen wollen. Sie besteht bereits aus zwei Gruppen, die eine arbeitet in Deutschland, die andere hier. Bei Berlin beschäftigen wir uns mit Gemüseanbau, hier im Süden Frankreichs betreiben wir großflächigen Anbau, kombiniert mit Gartenbau und Viehzucht, so daß wir Kameraden aus allen Bereichen brauchen. Das Gelände ist ein wahres Paradies, sowohl in der Schönheit des Panoramas und der Klarheit der Luft als auch in der Ursprünglichkeit unseres Lebens….

FILARETO KAVERNIDO

Gruppe Le Villars, aus Tourrettes-sur Loup (Var.) – 2. Mai 1927 – als Ergänzung zu dem von mir vor sechs Monaten geschriebenen obigen Text, füge ich an: Der Vertrag mit dem Sanatorium kann nicht legal weitergeführt werden, da das Gericht eine Voruntersuchung eingeleitet hat zum Sachverhalt des Tatbestandes der Störung der öffentlichen Ordnung. Daher ist unser Aufenthalt in Frankreich nur vorläufig: selbst wenn wir nur zu einer Strafe von einem Franc verurteilt werden, werden wir automatisch sofort ausgewiesen. Somit ist es uns nicht möglich, den Vertrag fortzuführen. Trotzdem leben wir in unserem Paradies nach den Regeln des kommunistischen Anarchismus. Unserer Gruppe setzt sich zusammen aus 8 Männern (4 Deutsche, 2 Bulgaren, ein Tscheche und ein Franzose) 4 Frauen und 18 Kindern, von denen zwei  hier das Licht der Welt erblickt haben. Wir arbeiten für das Sanatorium, kümmern uns um das Vieh, arbeiten in der Küche, im Garten, erledigen Besorgungen etc. Zur gleichen Zeit betreiben wir Gartenbau für uns, wir züchten verschieden Tiere (Schafe, Hühner, Kaninchen). Die Untersuchung dauert weiterhin an, man läßt uns in Ruhe leben, aber die Behörden verweigerten sechs Mitstreitern aus Berlin, sich uns anzuschließen. Dies ist nicht eine Maßnahme gegen unsere Kolonie, dies ist eine Folge der allgemeinen Ausländerpolitik. Keine Schwierigkeiten also, sich uns anzuschließen, wenn man die Möglichkeit hat, nach Frankreich zu kommen.

FILARETO KAVERNIDO

Dieser Artikel erschien 1927 in IDO in der Zeitschrift „L’en Dehors“

Übersetzung aus IDO in die Französische Sprache durch L’en Dehors

Übersetzung ins Deutsche: Tobias Gloger

Infos zum Artikel

Zeitung: L’en Dehors
Erscheinungsdatum: Juni 1927
Nummer: 110-111
Autor: Filareto Kavernido
Überschrift: La caverne de Zarathoustra
Thema: Kavernido berichtet über die Kommune im Sanatorium von Tourettes-sur Loup